Zweiter Teil der Geschichte von Amin, Ela, Baran und Aziz: Spaghetti im Spielzeugauto, eine dunkelrote Rose und ein Festmahl um zwei Uhr nachts…

In den drei Monaten, seit ich mit Amin, Ela und ihren beiden Buben Baran und Aziz aus Afghanistan zusammenlebe, ist viel geschehen, und fast täglich kommt etwas Neues dazu. Gestern hat sich der viereinhalbjährige Baran den Kopf an einer Bettkante angeschlagen. Der zweijährige Aziz, der für sein älteres Brüderchen alles täte, hat mit seiner Hand, so fest er konnte, auf das Bett geschlagen, um es sozusagen dafür zu bestrafen, dass es Baran weh getan hatte. Dann drückte er seinem Brüderchen zum Trost einen Kuss auf die Wange. Heute haben Baran und Aziz ganz von sich aus die ganze Geschirrspülmaschine ausgeräumt, Baran packte auch schon mal vier Teller zusammen nur mit der einen Hand und ich befürchtete schon einen Scherbenhaufen, doch nichts passierte. Aziz holt immer wieder die Bürste aus dem Putzschrank und fegt damit den Küchenboden. Auch den Staubsauger wollte er holen und am liebsten hätte er wohl das ganze Haus gesaugt, aber der war für ihn einfach noch viel zu schwer. Wunderbar und fast immer friedlich auch, wie die beiden Buben miteinander spielen. Kürzlich haben sie zwei Kissen nebeneinander hingelegt und sich darauf gesetzt, zwischen ihnen ein Bilderbuch, das sie zusammen angeschaut haben. Und ihre Eltern, Amin und Ela: Selten habe ich Eltern gesehen, die so liebevoll, geduldig und verständnisvoll mit ihren Kindern umgehen. Nie fällt ein böses Wort, nie eine barsche Zurechtweisung. Die beiden Buben können die verrücktesten Dinge anstellen, die Spaghetti, statt sie zu essen, in ein Spielzeugauto stopfen, einen Legostein in ein Glas Milch eintauchen, die Papierserviette in tausend klitzekleine Fetzchen zerreissen und sie überallhin verteilen – Amin und Ela finden das mindestens so lustig wie die Kinder und lachen stets mit ihnen mit.

Und dann ist da noch Karim, Elas Onkel, der seit 20 Jahren in München lebt, ein Mensch voller Weisheit, Lebenserfahrung und Humor. Kürzlich war er bei uns auf Besuch. Seit 20 Jahren – Ela war vier Jahre alt, als Karim Afghanistan verliess – hat sie ihn zum ersten Mal wieder gesehen. Mit dabei waren seine beiden Söhne und zwei Schwägerinnen. Um Mitternacht kamen sie an und etwa um zwei Uhr begannen wir zu essen, all die Köstlichkeiten, die Ela etwa drei Stunden lang zuvor gekocht hatte. Vor, während und nach dem Essen wurde geplaudert, gescherzt und gelacht in einer Fülle, wie ich sie in meinem Haus noch nie zuvor erlebt hatte, und das von Menschen, die alle ihre Heimat und zahllose Verwandte und Freunde verloren und auch am eigenen Leib Dinge erlebt haben, die wir uns Schweizerinnen und Schweizer nicht im Entferntesten vorstellen können.

Und auch Milad, Amins Kollege. Über ein Jahr hat er gebraucht, um von Afghanistan in die Schweiz zu kommen, fast alles zu Fuss, war unterwegs zwei Mal im Gefängnis und schleppte auf seinem grossen, starken Rücken einen total erschöpften Mann bei Schneesturm und Eiseskälte über einen 4000 Meter hohen Pass, einen Mann, der ohne Milad heute höchstwahrscheinlich nicht mehr leben würde. Auch Milad wohnt in meiner Stadt und kommt gelegentlich auf Besuch. Ich habe ihm geholfen, einen Job und eine neue Wohnung zu finden und habe ihm ein Fahrrad, das ich nicht mehr brauche, geschenkt. Kürzlich habe ich ihn gesehen, wie er voller Stolz, als wäre er der König von Kabul, durch die Stadt segelte. Seine Dankbarkeit ist grenzenlos. Immer wieder schickt er mir Whatsapps mit dem Symbol der gefalteten Hände und schreibt “Danka” – was für ein schönes Wort, es tönt für mich so ein bisschen wie eine Mischung aus Deutsch und seiner Muttersprache, dem Persischen. Als wir zusammen eine zur Miete angebotene Wohnung anschauen gingen, brachte er mir zum Dank eine Rose. Eine einzelne tiefrote, fast schwarze Rose, aber sie bedeutete mir mehr als der grösste Blumenstrauss, den ich je bekommen habe.

Wenn ich mir dann aber das Bild vor Augen führe, welches einen “typischen” Afghanen in den Köpfen der meisten Menschen hierzulande, in fast allen Medien und auf den Plakaten der grössten politischen Partei der Schweiz verkörpert, dann ist das nie ein liebevoller Vater, der mit seinen Kindern auf dem Boden herumkriecht, nie eine Frau, die singt, tanzt und lacht, und schon gar nie ein Kind, das ein anderes liebevoll küsst. Dieser “typische” Afghane ist fast immer nur ein junger Mann mit einem Messer im Sack, stets darauf aus, anderen etwas zuleide zu tun, ihnen etwas zu klauen, sie zu verletzen oder gar zu töten. Dieses Emporstilisieren einer kleinen Minderheit und deren Instrumentalisierung zu machtpolitischen Profilierungszwecken ist nicht nur eine unerhörte Missachtung jeglicher Objektivität, sondern zugleich eine masslose Beleidigung all jener weitaus viel zahlreicheren Afghaninnen und Afghanen, die, wie Amin, Ela, Baran, Aziz, Karim und Milad, friedlich, respektvoll und dankbar hierzulande leben, aber von den massgeblichen Meinungsmachern so behandelt werden, als gäbe es sie gar nicht. Wie tief muss es so lebenslustige Frauen wie Ela, so liebevolle Väter wie Amin, so mutige und hilfsbereite Männer wie Milad, so weise und fürsorgliche ältere Männer wie Karim und so unglaublich sanfte und liebevolle Kinder wie Baran und Aziz treffen, wenn sie wahrnehmen, dass überall dort, wo man über Menschen aus Afghanistan spricht und sich über sie ein Bild macht, sie selber gar nie vorkommen, sondern immer nur ein paar wenige “Bösewichte” oder allenfalls noch eine vollverschleierte, in Schwarz gekleidete Frau, die mit 99 Prozent der hierzulande lebenden Afghaninnen auch nicht das Geringste zu tun hat.

Rund 20’000 Afghaninnen und Afghanen leben in der Schweiz. Von diesen 20’000 haben im ersten Halbjahr 2023 – gemäss einer laufend auf der Homepage der SVP veröffentlichten Statistik – ganze zwölf eine Straftat begangen, meistens handelte es sich dabei um Schlägereien zwischen Jugendlichen, zudem gab es zwei Messerattacken, Telefonbetrügereien, einen Mordversuch und einen Mord. Keine dieser Straftaten soll verharmlost oder entschuldigt werden, aber wer nur immer wieder mit solchen Schlagzeilen konfrontiert wird, läuft unweigerlich Gefahr, zu vergessen bzw. auszublenden, dass während diesen sechs Monaten nicht nur zwölf in der Schweiz lebende Afghanen eine Straftat begangen haben, sondern gleichzeitig 19’988 andere Afghaninnen und Afghanen keine einzige Straftat begangen haben. Wohin in letzter Konsequenz eine so einseitige, manipulative Berichterstattung führt, sehen wir in Deutschland, wo bei einem höchstwahrscheinlich ähnlichen Prozentsatz an Straftaten die CDU als wählerstärkste Partei aus populistischen und wahltaktischen Gründen vor rund drei Wochen nicht einmal davor zurückschreckte, einen allgemeinen Aufnahmestopp für Flüchtlinge aus Afghanistan zu fordern.

Kommt dazu, dass sowohl in Deutschland und der Schweiz wie auch in den anderen europäischen Ländern genau in der gleichen Bevölkerungsgruppe, die bei Asylsuchenden besonders stark vertreten ist, ebenfalls die Straftaten und Gewaltdelikte weit über dem Gesamtdurchschnitt liegen, also bei häufig arbeitslosen, armutsgefährdeten Männern mit geringer Schulbildung zwischen 18 und 30 Jahren, wobei bei Flüchtlingen erschwerend dazukommt, dass viele von ihnen bereits selber Gewalt erfahren haben oder durch Verfolgung und Krieg traumatisiert sind, dennoch aber sich in ihrer neuen Lebensumgebung nicht heimisch und nicht willkommen fühlen und auch viel weniger Chancen und Zukunftsperspektiven haben im Vergleich mit der ansässigen Bevölkerung. All das kann erhöhte Gewaltbereitschaft erklären, ohne dass man sie deshalb rechtfertigen muss. Entscheidend ist jedoch, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass Delinquenz grundsätzlich nichts zu tun hat mit der ethnischen Herkunft oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität oder Religion. Unter ähnlichen äusseren Bedingungen würden sich ganz ähnliche Lebensgeschichten entwickeln, ganz unabhängig davon, ob es sich um Menschen aus der Schweiz, Afghanistan, Mexiko oder Marokko handelt. Das Gegenteil zu behaupten, ist nichts anderes als purer Rassismus.

Stünden Gewaltbereitschaft oder andere sozial “unerwünschte” Verhaltensweisen bzw. “Mentalitäten” tatsächlich in einem Zusammenhang mit der ethnischen Herkunft, dann wären Baran und Aziz, meine beiden afghanischen Gastkinder – und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie zufälligerweise nur zwei seltene Ausnahmen sind -, nicht so wunderbare Menschen, ebenso wie auch alle anderen Kinder der Welt. Nein, die Gewalt steckt nicht in ihnen, die kommt erst später dazu. Ob ein Kind dereinst als Erwachsener ein Terrorist, ein Mörder oder ein Bankdirektor sein wird, hat nichts mit dem Kind selber und seiner Herkunft zu tun, sondern nur mit der Umgebung und mit den Lebensverhältnissen, in denen es aufwächst.

Aziz, der übermorgen seinen zweiten Geburtstag feiert, nennt mich “Abuda”, ein Wort, das er selber erfunden hat, aber so schön klingt, dass man sich eigentlich nur wundern kann, dass es nicht in irgendeiner Sprache schon längst erfunden wurde. Betrete ich das Haus, höre ich ihn schon “Abuda” rufen und er springt so schnell die Treppe herunter, dass es mir jedes Mal Angst und Bange wird, er könnte stolpern und über die Stufen hinunterpurzeln. Er lacht mir mit seinen wunderbaren, leuchtenden Augen entgegen, und nimmt mich meistens bei der Hand, um mich irgendwohin zu ziehen, wo ich dann mit ihm spielen soll. Als ich kürzlich zwei Tage fort war, fragte er, wie Amin und Ela mir nachher erzählten, unablässig nach “Abuda” und jedes Mal, wenn er von der Strasse her eine Stimme hörte, rief er sogleich “Abuda?”. Wenn er ein Brötchen, ein Stück Kuchen oder eine Banane isst, bricht er immer ein winziges Stück davon ab und gibt es mir, ganz so, wie man einen kleinen hungrigen Vogel füttert. Als Ela seinem älteren Bruder eines Abends nach dem Essen liebevoll übers Haar strich, wünschte er sich das ebenso von seiner Mama. Dann bat er sie, auch Amin übers Haar zu streichen. Kaum hatte sie das getan, zeigte er auf mich: Auch Abuda! Diesen Wunsch allerdings konnte ihm nun Ela wirklich nicht erfüllen. Doch in diesem Augenblick dachte ich: Eigentlich ist es ja gar nicht so, dass ich bloss Amin, Ela, Baran und Aziz in die Familie meiner Kinder und Enkelkinder und in mein Haus aufgenommen habe. Eigentlich ist es ja gleichzeitig auch so, dass sie mich in ihre Familie aufgenommen haben und der Kleinste von ihnen dabei so etwas ist wie ein kleiner Brückenbauer, der sich am eifrigsten darum bemüht. Sodass wir uns eigentlich gegenseitig aufgenommen haben und daraus etwas Neues und Grösseres entstanden ist.

Und je länger ich darüber nachdenke, umso mehr wird mir bewusst, was für eine wunderbare Chance das wäre und was für kaum vorstellbare Auswirkungen es hätte, wenn wir überall auf der Welt die Kinder nicht mehr länger daran hindern würden, solche Brücken zwischen den Menschen zu bauen. Lassen wir Erwachsene uns doch alle und überall von den Kindern an die Hand nehmen, schauen wir uns gegenseitig in die Augen um zu sehen, was uns im tiefsten Inneren über alle Grenzen hinweg miteinander verbindet. Lassen wir uns von “Andersartigem”, “Fremdem” nicht mehr länger abschrecken, sondern berühren und verzaubern. Erzählen wir die vielen guten und schönen Geschichten weiter statt die wenigen schlechten und hässlichen, denn Schlechtes kann man nicht mit Schlechtem zum Verschwinden bringen, sondern nur mit Gutem. Brechen wir, so wie der zweijährige Aziz, von allen unseren Brötchen und Kuchenstücken ein bisschen ab und geben es weiter. Tragen wir Sorge, damit die Rose, die ich von Milad an jenem Samstagnachmittag in St. Gallen bekommen habe, nie mehr verblüht und lassen wir viele weitere Millionen Blumen wachsen überall dort, wo zuvor der Hass, die Gewalt, die fehlende Menschenliebe und der Krieg gewesen waren…

Wenn du wissen möchtest, wie diese Geschichte angefangen hat und wie sie weitergeht, dann schreibe doch bitte eine Email mit dem Stichwort “Afghanistan” an: info@petersutter.ch. Dann bekommst du die bisherigen und die zukünftig erscheinenden Artikel.