Zwei Berufe statt einer: ein utopisches Gesellschaftsmodell

Bundesrat Alain Berset schlägt vor, das Frauenrentenalter von 64 auf 65 Jahre anzuheben. Und dies, obwohl Hunderttausende von Frauen anlässlich des Frauenstreiktags vor wenigen Wochen noch vehement gegen eine Erhöhung des Frauenrentenalters auf die Strasse gingen.

(Tages-Anzeiger, 4. Juli 2019)

In den Diskussionen rund um das Rentenalter geht meistens vergessen, dass Arbeit nicht gleich Arbeit ist. Es gibt berufliche Tätigkeiten, die man, wenn es möglich wäre, zeitlebens ausüben möchte, während für andere das genaue Gegenteil zutrifft. Der Schweizer Maler, Bildhauer und Grafiker Hans Erni arbeitete noch im Alter von 100 Jahren täglich von früh bis spät in seinem Alter. Bruno Ganz drehte mit 76 Jahren seine letzten Filme. Emil Steinberger steht noch heute, mit 86 Jahren, allabendlich auf der Bühne. Eine Fabrikarbeiterin oder ein Bauarbeiter hingegen würden, wenn dies möglich wäre, am liebsten vielleicht schon mit 50 Jahren in Pension gehen…

Denkbar also, dass jeder berufstätige Mensch sein Pensionierungsalter selber bestimmen könnte. Was allerdings unabsehbare finanzielle und gesellschaftspolitische Auswirkungen hätte und wohl kaum in naher Zukunft realisierbar wäre. Eine ebenfalls im Moment noch utopisch erscheinende, aber theoretisch machbare und realisierbare Lösung könnte so aussehen: Jeder Mensch arbeitet nicht nur in einem, sondern in zwei Berufen, die er je halbtags ausübt. Der erste Beruf, das ist sein eigentlicher Wunschberuf, jener Beruf, in dem er seine ganz persönlichen Vorlieben und Begabungen ausleben könnte, jener Beruf, den er, wenn es möglich wäre, am liebsten zeitlebens ausüben würde. Der zweite Beruf, das ist ein Teil jener gesamtgesellschaftlichen «Bürde», die geleistet werden muss, wenn ein Gemeinwesen funktionieren soll: Produktion von Nahrungsmitteln, Landschaftspflege, Dienst an Kranken und Pflegebedürftigen, Strassenbau und Strassenunterhalt, usw. Der grosse Vorteil dieses Modells würde darin liegen, dass es nicht weiterhin privilegierte und benachteiligte Berufsgruppen gibt, sondern dass jeder und jede ihren Teil der gesamtgesellschaftlichen Bürde trägt, sich damit aber anderseits auch die Chance verdient, in seinem «Traumberuf» tätig zu sein.

Und was hat das mit dem Pensionierungsalter zu tun? Nun, im zweiten Beruf, dem «Dienst an der Gemeinschaft», könnte man dann zum Beispiel schon mit 60 Jahren in Pension gehen, während man den ersten, selber gewählten Beruf so lange ausüben könnte, wie man wollte. Und alles, sowohl die Lasten wie die Freuden, wäre gleichmässig auf alle verteilt.