Zunehmender Fachkräftemangel: Eine Pyramide, die schon bald umkippen könnte…

 

Gastronomie,
Handwerk, Baugewerbe, Krankenpflege – an allen Ecken und Enden fehlt es
zunehmend an Fachkräften. Gleichzeitig nimmt die Zahl Jugendlicher, welche sich
für das Gymnasium anstelle einer Berufslehre entscheiden, kontinuierlich zu.
Stellen wir uns die Arbeitswelt als Pyramide vor: „Unten“, an der Basis, der
Landarbeiter und die Verkäuferin, die Fabrikarbeiterin und der Bauarbeiter, der
Krankenpfleger und die Kitaangestellte, der Lastwagenfahrer und die Coiffeuse,
der Koch und die Kellnerin, das Zimmermädchen und die Putzfrau, der
Müllarbeiter und die Floristin, der Elektroinstallateur und die Floristin, die
Gärtnerin und der Gebäudereiniger. „Oben“, in der Spitze der Pyramide, der
Rechtsanwalt und der Ingenieur, die Kinderärztin und der Geschäftsführer, die
Universitätsdozentin und der Architekt, die IT-Spezialistin und der
Unternehmensberater, der Immobilienmakler und die Pfarrerin. Die in der Spitze
der Pyramide Tätigen können ihren Beruf nur solange ausüben, als es genügend
andere Berufstätige an der Basis der Pyramide gibt, welche die elementaren
Grundleistungen erbringen, die für das Funktionieren der gesamten Wirtschaft
unerlässlich sind. Was wir heute erleben, ist, dass die Basis der Pyramide
immer schmaler wird und die Spitze immer breiter. Das kann auf die Länge nicht
gut gehen, eines Tages wird die Basis so schmal sein und die Spitze so breit,
dass die ganze Pyramide kippen wird. Um dies rechtzeitig zu verhindern, braucht
es drastische Massnahmen. Eine mögliche Massnahme könnte, so utopisch dies
heute noch klingen mag, darin liegen, über alle Berufe hinweg einen
Einheitslohn einzuführen. Es ist nämlich nicht einzusehen, weshalb eine
Krankenpflegerin oder ein Bauarbeiter, die täglich Schwerarbeit leisten und
dabei sogar ihre eigene Gesundheit aufs Spiel setzen, so viel weniger Lohn
haben sollen als etwa ein Vermögensverwalter oder der Chef eines
Kleinunternehmens, die körperlich weit weniger belastet sind. Gewiss, man kann
viele Argumente für Lohnunterschiede ins Feld führen, von der körperlichen
Belastung über den Grad der zu tragenden Verantwortung oder psychischen
Belastung bis hin zur Ausbildungsdauer. Gleichwohl sind alle diese Argumente
willkürlich. Tatsache ist, dass letztlich alle beruflichen Tätigkeiten von
allen anderen gegenseitig abhängig sind und auch der erfolgreichste CEO seinen
Beruf nicht ausüben könnte, wenn es keine Bauarbeiter gegeben hätte, welche die
Gebäude, in denen der CEO arbeitet, gebaut hätten, keinen Landarbeiter und
keine Arbeiterin in der Lebensmittelfabrik, die dafür sorgen, dass er stets
genug zu essen hat, niemand, der sein Auto, seine Kleider und seine Schuhe
hergestellt hätte. Das einzig wirklich Logische ist ein Einheitslohn, ein
gerechtes Verteilen des Gesamtgewinns, zu dem alle einen unentbehrlichen Teil
beitragen und deshalb alle auch wieder einen gerechten Anteil zurückbekommen
sollten. Da der Lohn und die gesellschaftliche Wertschätzung eng miteinander
verknüpft sind, würde der Einheitslohn bedeuten, dass alle in den
„Basisberufen“ Tätigen genau jene Wertschätzung erfahren würden, die ihnen
heute so fehlt und so oft der Grund sind, aus solchen beruflichen Tätigkeiten
auszusteigen oder sie schon gar nicht ausüben zu wollen. Wenn die Einführung
eines Einheitslohns das Problem der kippenden Pyramide noch nicht hinreichend
lösen könnte, dann liesse sich noch ein zweites Szenario vorstellen: ein Verzicht
auf rein akademische Bildungswege, also eine Abschaffung des Gymnasiums und der
Grundsatz einer „Berufslehre für alle“ – im Gegensatz zur oft gehörten
Forderung nach einer „Matura für alle“. Eine Berufslehre für alle hätte den
grossen Vorteil, dass eine viel grössere Zahl praktisch ausgebildeter junger
Erwachsener zur Verfügung stünden. Gewiss, man dürfte dabei nicht die Spitze
der Pyramide vernachlässigen. Doch eine Abschaffung des Gymnasiums würde ja
nicht dazu führen, dass es zukünftig keine Ärztinnen, Ingenieure und
Naturwissenschaftlerinnen mehr gäbe. Nur wäre der Ausbildungsweg ein anderer:
Die zukünftige Ärztin würde neu nicht mehr ein Gymnasium besuchen, eine Matura
machen und dann in eine Universität eintreten, sondern zunächst eine Lehre als
Gesundheitsfachperson absolvieren, dann eine Zeitlang diesen Beruf ausüben und
praktische Erfahrungen sammeln, mögliche Weiterbildungen besuchen und am Ende
ein universitäres Studium aufnehmen. Das Beispiel ist stellvertretend für alle
anderen, heute noch ausschliesslich auf dem akademischen Bildungsweg verfolgten
Berufsziele: Niemand würde auf direktem Weg an die Spitze der Pyramide
gelangen, alle würden an der Basis der Pyramide beginnen und zunächst viele
praktische Erfahrungen sammeln, um dann, allenfalls, in einer späteren Phase
ihres Bildungswegs, in die Spitze der Pyramide „aufzusteigen“. Es wäre eine
klassische Win-Win-Situation, wären damit doch gleichzeitig das Problem des
Fachkräftemangels wie auch der zunehmenden Akademisierung, die uns vor immer
grössere Probleme stellen werden, wirksam gelöst. Und vielleicht sieht ja dann
unsere zukünftige Arbeitswelt auch gar nicht mehr wie eine Pyramide aus, weder
eine am Boden noch eine auf dem Kopf stehende, sondern ein gleichberechtigtes
und gleichwertiges Nebeneinander und Miteinander arbeitender Menschen, von
denen sich niemand mehr als „wichtiger“, „angesehener“ oder „privilegierterer“
fühlen würde als alle anderen…