Zürich am 2. November 2023: Tausend Stunden für den Frieden

2. November 2023, 18 Uhr, Bürkliplatz Zürich. Die GSoA, die Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina, Amnesty International Schweiz sowie mehrere weitere Organisationen haben zu einer Friedenskundgebung für den Nahen Osten aufgerufen. Rund tausend Menschen sind dem Aufruf gefolgt. Peace-Fahnen, Kerzen, Musik, aus der immer wieder die Wörter “Shalom” und “Peace” herauszuhören sind. Man spürt förmlich die tiefe Betroffenheit der Anwesenden, es wird nur wenig geredet, alle tragen in sich die unfassbaren Bilder der letzten Tage, all dieses Unaussprechliche. Dann zwei Texte, einer aus palästinensischer, der andere aus israelischer Sicht. In beiden Texten, vorgetragen in Deutsch und Englisch: Das gleiche Leiden, die gleichen Ängste, fast genau die gleichen Worte, die gleiche Sehnsucht nach einem baldmöglichsten Ende der Gewalt, die gleiche Hoffnung auf eine neue Zeit, in der zwei Völker, die sich gegenseitig über Jahrzehnte das Leben so schwergemacht haben, endlich miteinander in Frieden, Sicherheit und gegenseitigem Respekt leben könnten. Dann eine Schweigeminute, im Gedenken an all die Opfer auf beiden Seiten, die bisher schon getötet, verschleppt, verwundet oder in die Flucht geschlagen wurden. Mein Blick schweift über den Platz, dann hinüber zur Strasse, auf der sich Autos, Trams und Busse vom Bellevue her zur anderen Seeseite bewegen. Und seltsam: Obwohl in nicht allzu grosser Distanz, ist vom ganzen dichten Abendverkehr kaum etwas zu hören, fast gespenstisch lautlos gleitet im Hintergrund alles vorüber. Als würden sie alle mitschweigen. Als gäbe es für einen kurzen Moment so etwas wie die Hoffnung, die ganze Welt könnte sich in einen Ort des Friedens und der Liebe verwandeln. Und dann, zum Abschluss der Kundgebung, “Imagine”, erstmals gesungen von John Lennon im Jahre 1971 und tragischerweise immer noch aktueller denn je: “Stellt euch vor, es gäbe keine Länder, nichts, wofür es sich lohnt zu töten oder zu sterben, und auch keine Religion, stellt euch vor, alle Menschen lebten ihr Leben in Frieden, stellt euch vor, es gäbe keinen Besitz mehr, keinen Grund für Gier oder Hunger, stellt euch vor, alle Menschen teilten sich die ganze Welt, ihr werdet vielleicht sagen, ich sei ein Träumer, aber ich bin nicht der Einzige, eines Tages werdet ihr alle diesen Traum mit mir teilen und die ganze Welt wird eins sein.” Es ist nicht viel und es ist nicht genug, aber es ist auch nicht wenig: Tausend Menschen sind gekommen, haben sich für eine Stunde aus ihrem gewohnten Alltag, aus Terminen und Verpflichtungen aller Art ausgeklinkt und diese Stunde dem Frieden geschenkt. Tausend mal eine Stunde. Tausend Stunden für den Frieden.

Das Licht der Kerzen, die Hoffnung auf eine neue Zeit brennt in mir weiter, während ich mich auf den Nachhauseweg begebe. Aufgeregt drehe ich den Fernseher an, die Nachrichtensendung “Zehn vor zehn”. Da muss doch darüber berichtet werden, das darf doch nicht einfach im Nichts verhallen. Tausend Menschen, Palästinenserinnen und Palästinenser, Jüdinnen und Juden, Christinnen und Christen, Atheistinnen und Atheisten, Seite an Seite, ohne Hass, nur in tiefer Traurigkeit miteinander verbunden im Bewusstsein, dass eine andere Welt möglich ist, eine Welt, von der alle hier auf dem Platz während dieser Stunde der Nachdenklichkeit so viel gespürt haben. Doch über nichts von alledem wird im Fernsehen berichtet. Es war wohl alles viel zu wenig spektakulär. Stattdessen ein ausführlicher Bericht über eine vom deutschen Vizekanzler Robert Habeck gehaltene Rede an sein Land, in welcher er eindringlich vor einem weltweit wachsenden Antisemitismus gewarnt hat. Dazu eingeblendet Bilder von propalästinensischen Demonstrationen, versehen mit dem Kommentar, hier zeige sich der Hass gegen Jüdinnen und Juden in ganz besonders beängstigendem Ausmass – obwohl auf den Plakaten, die im Vordergrund zu sehen sind, einzig die Botschaften “Free Palestine” und “Stop Genocide” zu lesen sind, und auch die so bedrohlich aussehenden Rauchschwaden im Hintergrund längst kein Beweis für Judenfeindlichkeit sein müssen. Dann, so Habeck, der unverzeihliche “Angriff auf eine Synagoge mit Molotowcocktails” und das ebenso “unverzeihliche Verbrennen israelischer Flaggen” – wobei das alles in vielen Fällen auch Einzeltäter gewesen sein könnten und dennoch der Eindruck entsteht, dies alles sei typisch für eine überwiegende Mehrheit der Palästinenserinnen und Palästinenser. Solche Beispiele aufzuzählen ist ja nicht grundsätzlich falsch, wenn auch medial extrem zugespitzt und in der Verallgemeinerung fragwürdig. Und ohne Frage hat Habeck Recht, wenn er Antisemitismus in aller Entschiedenheit verurteilt. Nur ist das alles bloss die Hälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte, das ist die Gewalt, die dem palästinensischen Volk durch jahrzehntelange Vertreibung und Landnahme durch Israel angetan worden ist und in diesen Tagen mit der Bombardierung des Gazastreifens so erbarmungslos weitergeht. Die andere Hälfte der Wahrheit ist auch das, was der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu kürzlich sagte, nämlich, dass Israel das “Reich des Lichtes” sei und Palästina das “Reich der Dunkelheit”. Die andere Seite der Wahrheit ist auch das, was der israelische Verteidigungsminister Yoav Galant sagte, nämlich, dass der Kampf gegen die Palästinenserinnen und Palästinenser ein Kampf gegen “Tiere” sei und dementsprechend auch zu führen sei, nämlich, indem diesen “Tieren” Strom, Gas, Wasser und Nahrungsmittel vorenthalten werden müssten. Die andere Seite der Wahrheit ist auch das, was der israelische Generalmajor Ghassan Alian sagte, nämlich, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser, weil sie die “Hölle” wollten, diese auch bekommen sollten. Man muss das alles nicht miteinander vergleichen, nichts mit irgendetwas anderem rechtfertigen, nichts beschönigen und nichts entschuldigen. Aber man darf nicht nur die eine Hälfte der Wahrheit erzählen und die andere nicht. Denn dies führt nur dazu, dass die gegenseitigen Ängste, die gegenseitige Wut, die gegenseitigen Feindbilder weiter ins Unermessliche gesteigert werden und der Traum von gemeinsamem Frieden in immer weitere Ferne rückt.

Das ist das Verhängnisvolle: Spektakuläre Bilder lassen sich so viel besser verkaufen als stille Botschaften der Liebe. Mit schlechten Nachrichten lässt sich so viel mehr Geld verdienen als mit guten Nachrichten. Eine Botschaft des Hasses kann sich, mit den entsprechenden Bildern, in Sekundenschnelle so viel schneller verbreiten als eine Botschaft der Liebe, die so viel mehr Aufmerksamkeit, Sorgfalt, Geduld und Zeit erfordert, Zeit, die offensichtlich in einer so schnelllebigen Medienwelt schlicht und einfach nicht mehr vorhanden ist. Wäre an der Friedensdemonstration auf dem Bürkliplatz auch nur ein Einziger der Anwesenden ausgerastet und mit einem Messer auf einen anderen losgegangen, ich bin fast ganz sicher, das hätte am Fernsehen reichlich Platz bekommen und ein einziger Gewaltbereiter hätte mehr mediale Wirkung erlangt als 999 Friedfertige. Die Medien haben eine riesige Mitverantwortung für die Art und Weise, wie sich dieser Konflikt weiterentwickeln wird. Und viel wird davon abhängen, ob sich neben den lauten Stimmen einiger weniger auch die leisen Stimmen der vielen anderen Gehör verschaffen werden. Denn das, was auf dem Bürkliplatz an diesem Donnerstagabend geschah, kann nur der Anfang sein von etwas viel Grösserem. Bis immer mehr Menschen erkennen, dass es so viel mehr gibt, was sie miteinander verbindet, als was sie voneinander trennt. Bis wir alle wieder so werden wie die Kinder hüben und drüben aller Grenzen, miteinander verbunden in tiefster Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit. Bis die Liebe den Hass überwunden hat.