Zu viele Menschen finden in ihrer täglichen Arbeit keine Selbstverwirklichung

 

Nur gerade 50 Prozent aller Arbeitnehmenden in der Schweiz, so berichtet das “Tagblatt” am 25. Mai 2022, sind mit ihrer aktuellen Arbeitssituation “sehr bis mässig zufrieden”. Es fehle häufig am Gefühl, “bei der Arbeit ganz sich selbst sein zu können” und einer “erfüllenden Tätigkeit” nachgehen zu können. Vermutlich hängt dies sehr stark von der jeweiligen beruflichen Tätigkeit ab. So könnte ich mir gut vorstellen, dass eine Architektin, welche ihre kreativen Ideen in interessante Bauprojekte umsetzen kann, mit ihrer Arbeitssituation durchaus “sehr bis mässig zufrieden” sein wird, während die Angestellte eines Supermarkts, die von früh bis spät Lebensmittelregale auffüllen muss, in ihrem Job wahrscheinlich eher weniger “Erfüllung” findet und kaum je das Gefühl hat, bei ihrer Arbeit “ganz sich selbst sein zu können”. Eigentlich ist die Berufswelt zutiefst ungerecht: Können viele ihre ursprünglichen beruflichen Wunschträume verwirklichen, sind ebenso viele andere dazu verdammt, lebenslang Jobs zu verrichten, die nicht das Geringste mit ihren ursprünglichen Wunschträumen zu tun haben. Kommt dazu, dass ausgerechnet diese oft unbeliebten, anstrengenden und mühsamen “Knochenjobs” in aller Regel schlechter entlohnt sind als jene, die viel eher eine Selbstverwirklichung in der täglichen Arbeit ermöglichen. Es gäbe für dieses Problem eine naheliegende Lösung: Wie wäre es, wenn alle berufstätigen Menschen nicht nur einen einzigen, sondern zwei unterschiedliche berufliche Tätigkeiten ausüben würden? Die eine zum Beispiel vormittags, die andere nachmittags, oder die eine an zweieinhalb Tagen pro Woche, die andere an den übrigen zweieinhalb Tagen. Die eine Tätigkeit wäre die, welche dem ursprünglichen Wunschtraum nach Selbstverwirklichung entsprechen würde, eine Tätigkeit, in der man “ganz sich selbst sein” könnte und seine Lebenserfüllung fände. Die andere Tätigkeit, das wäre dann eben ein “Knochenjob”, eine Arbeit, die zwingend von jemandem erledigt werden muss, wenn Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes funktionieren sollen. Dies hätte gegenüber dem heutigen, auf einen einzigen Beruf zugeschnittenen Arbeitsmodell viele Vorteile. Erstens: “Angenehmes” und “Unangenehmes” wäre gleichmässig auf alle Schultern verteilt, es gäbe nicht mehr Privilegien der einen auf Kosten der anderen. Zweitens: Körperliches und seelisches Wohlbefinden würden insgesamt gesteigert, alle hätten die Möglichkeit zu einer erfüllenden Tätigkeit, alle wären gleichermassen körperlich und geistig gefordert und Berufskrankheiten durch zu einseitige – körperliche wie psychische – Belastung würden wohl weitgehend verschwinden. Drittens: Die heutige durch die Segmentierung der Arbeitswelt bedingte Trennung zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten würde sich weitgehend auflösen. Sieht man den Rechtsanwalt, der am Vormittag in seinem Büro sass, am Nachmittag als Kehrichtmann oder als Strassenarbeiter, dann würden sich augenblicklich die konventionellen Denkmuster von “oben” und “unten” in Nichts auflösen. Ich gebe zu: Es handelt sich hier um eine Vision, die sich nicht so einfach von heute auf morgen umsetzen liesse. Und vielleicht gäbe es ja noch bessere Ideen, wie man das Problem. dass sich die Hälfte der Arbeitnehmenden in ihrer täglichen beruflichen Arbeit nicht wirklich wohl fühlen, lösen könnte. Aber allein der Umstand, dass so viele Menschen in ihrer Arbeit keine wirkliche Erfüllung finden, ist doch ein so grosser gesellschaftspolitischer Hilfeschrei, dass schlicht und einfach etwas Grundsätzliches und Wirksames dagegen unternommen werden muss, ob wir wollen oder nicht. Denn schon heute zeigt sich: Immer mehr Menschen wandern aus den unbeliebten und schlechtbezahlten Knochenjobs aus, an allen Ecken und Enden – von der Krankenpflege bis zu den Handwerkern, von der Gastronomie bis zu den Baustellen – fehlt es am nötigen Personal, während gleichzeitig immer mehr akademisch Ausgebildete überhaupt keine zu ihren Qualifikationen passende Stelle mehr finden. Früher oder später muss es darauf eine gesellschaftspolitische Antwort geben. Die Idee, dass jeder Mensch nicht nur einen, sondern zwei Jobs ausüben würde, ist nur einer von vielen möglichen Lösungsvorschlägen. Wer hat einen besseren?