Wohnen unter der Erdoberfläche – und wo bleibt die soziale Gerechtigkeit?

Antonia Cornaro ist Expertin für Untergrund-Projekte und Co-Komitee-Chefin der Nichtregierungsorganisation International Tunneling and Underground Space Association ITA mit Sitz in Genf. Die studierte Stadtplanerin propagiert als Antwort auf den Klimawandel die Erforschung und den Ausbau von Flächen in der Erde in Form von Tunnels, Shoppingcentern, Datencentern – und Wohnunterkünften: “Ich bin überzeugt, dass in Zukunft der Untergrund für einen Teil der Menschheit eine Alternative zum Leben an der Erdoberfläche sein kann.” Auch die australische Soziologin Marilu Melo glaubt an die wachsende Bedeutung der Beherbergung im Untergrund. Melo recht damit, dass es auch unter der Erde beides geben wird – Flächen für die Reichen, die mit der besten Technologie und Swimmingpools ausgerüstet sind, und solche für die ärmeren, mit entsprechend weniger Komfort.

(Tagblatt, 29. Februar 2020)

Wenn es um technologische Phantasien geht, scheint es für die zuständigen Forscher und Expertinnen keine Grenzen zu geben. Sehen die einen eine Zukunft der Menschheit in unterirdischen Wohnanlagen, träumen andere wiederum davon, dass sich die Menschen, wenn die Erde unbewohnbar geworden ist, auf anderen Planeten ansiedeln könnten, und dann gibt es sogar noch diejenigen, die das Ende der Menschheit voraussagen und als Ersatz für den Menschen eine Gesellschaft aus Robotern und Künstlicher Intelligenz propagieren. Nur auf einem Gebiet scheint das Denken hingegen noch in der Steinzeit steckengeblieben zu sein, auf dem Gebiet der sozialen Gerechtigkeit. So hartnäckig scheint sich die Tatsache der haarsträubenden weltweiten sozialen Ungleichheit – die sich zudem täglich weiter vergrössert – in unseren Köpfen eingebrannt zu haben, dass selbst bei so hochfliegenden Phantasien wie dem Wohnen unter der Erdoberfläche oder auf anderen Planeten niemand auf die Idee zu kommen scheint, entsprechende geistige Höhenflüge in Bezug auf die gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse anzustellen und vielleicht sogar die Vision weltweiter sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln. Ob man wohl bei der Idee, auf andere Planeten auszuwandern, auch schon Planeten für die Reichen und Planeten für die Armen ausgesucht hat? Und ob man wohl bei der Idee, Menschen durch Roboter ersetzen, auch damit liebäugelt, Roboter zu entwickeln, die besondere Privilegien geniessen, und andere, die ihnen zu dienen und sich von ihnen beherrschen zu lassen haben?