Wladimir Putins Rede zum 9. Mai: Was war zuerst, das Huhn oder das Ei?

 

Am 9. Mai feierte Russland wie jedes Jahr den Sieg über Nazideutschland. In seiner zehnminütigen Rede sagte Putin – so der “Tagesanzeiger” vom 10. Mai 2023 -, Russland befinde sich auch heute in einem “echten Krieg”. Putin verdrehe dabei, so der “Tagesanzeiger”, einmal mehr die Wirklichkeit, indem er behaupte, dass der Westen Russland bekämpfe und sich sein Land bloss dagegen verteidige. Seit Monaten wiederhole er immer wieder die gleiche Propagandabotschaft, dass eine “westliche Elite” Hass und Russophobie säe, Russland spalten und zerstören wolle. Ähnlich hätte es bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an einer russischen Gedenkfeier auf dem Zürcher Hörnlifriedhof getönt: “Hier feiert”, so der “Tagesanzeiger”, “eine prorussische Gemeinschaft sich selbst. Man glaubt daran, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.”

Nicht anders tönt es, wenn man sich die Rhetorik der westlichen Exponentinnen und Exponenten in Bezug auf den Krieg in der Ukraine anschaut. Auch hier ist immer wieder vom Kampf des “Guten” gegen das “Böse” die Rede und davon, auf der “richtigen Seite der Geschichte” zu stehen. Die Auseinandersetzung erinnert unwillkürlich an die uralte Frage, was denn zuerst gewesen sei, das Ei oder das Huhn? Ist Russland eine machtgierige, von nichts zurückschreckende Diktatur, deren Ziel es ist, längerfristig ganz Europa unter seine Gewalt zu bringen – und die Expansion der Nato und die militärische Aufrüstung der Ukraine bloss im Sinne von Selbstverteidigung das legitime Mittel, dies zu verhindern? Oder ist es genau umgekehrt: Die Nato und die militärische Aufrüstung des Westens eine lebensgefährliche Bedrohung der russischen Souveränität? Wer sich nicht blindlings auf die eine oder andere Seite schlägt, findet wohl für seine je eigene Version stets genügend stichhaltige Argumente. 

Wer sich dagegen die Mühe nimmt, seine ideologischen Scheuklappen abzulegen und seine eigenen vermeintlichen “Wahrheiten” kritisch zu hinterfragen, für den wird das gängige Schwarzweissbild bald einmal zu einem Bild unterschiedlicher Grautöne. Bestand Putins Rede am 9. Mai tatsächlich aus lauter Propagandabotschaften und war sie tatsächlich so “krud” und “irritierend”, wie ihr von westlichen Medien unterstellt wurde? Einige Zitate westlicher Politikerinnen und Politiker mögen uns rasch eines Besseren belehren. So etwa forderte Zbigniew Brzezinski, ehemaliger US-Politberater, im Jahre 1997 eine “möglichst weitreichende Osterweiterung der Nato”, um “Amerikas Vormachtstellung in Eurasien zu sichern.” Zwölf Jahre später sprach er erneut von einer “neuen Weltordnung”, welche “gegen Russland” errichtet werden sollte, “auf den Ruinen Russlands und auf Kosten Russlands.” Ben Hodges, ehemaliger Befehlshaber der US-Armee in Europa, sah 2020 das Ziel der US-Militärpolitik darin, Russlands “Spaltung und Zerfall” herbeizuführen. 2022 erklärte Douglas McGregor, ehemaliger US-Sicherheitsberater: “Acht Jahre haben wir gebraucht, diese Armee der Ukraine zu dem einzigen Zweck aufzubauen, um Russland anzugreifen.” US-Präsident Joe Biden sprach im gleichen Jahr von einer “Schlacht, die nicht in Tagen oder Monaten geschlagen sein wird.” Die deutsche Aussenministerin Analena Baerbock befürwortete die Wirtschaftssanktionen gegen Russland damit, sie würden “Russland ruinieren”. Und die damalige britische Premierministerin Liz Truss verstieg sich sogar zur Aussage, sie würde einen “Atomschlag gegen Russland durchführen, auch wenn das Ergebnis eine weltweite Vernichtung wäre.” Dabei mangelte es nicht an kritischen Stimmen gegen diese aggressive Droh- und Machtpolitik gegenüber Russland. Bereits 1997 warnte der US-Historiker George F. Kennan, dass die Entscheidung, die Nato bis an die Grenzen Russlands auszudehnen, der “verhängnisvollste Fehler” sei, der die russische Aussenpolitik “in eine Richtung zwingen könnte, die uns entschieden missfallen wird.” Im gleichen Jahr liess der damalige US-Senator und heutiger US-Präsident Joe Biden verlauten: “Das Einzige, was Russland zu einer heftigen Reaktion provozieren kann, ist die Erweiterung der Nato auf die baltischen Staaten.” Und die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel schien bereits 2008 künftiges Unheil vorauszusehen, als sie sagte, dass ein Beitritt der Ukraine zur Nato “aus der Perspektive Russlands als Kriegserklärung angesehen” würde. Die wesentliche Mitschuld des Westens am Ukrainekrieg teilt auch der US-Publizist Noam Chomsky, der davon sprach, dass sich der Westen mit der Aufrüstung der Ukraine ab 2014 in einen Bereich einmischte, den “jeden russischen Führer als untragbar ansehen musste.” Und Papst Franziskus erklärte im Mai 2022: “Vielleicht war es die Nato, die Putin dazu veranlasste, eine Invasion der Ukraine zu entfesseln. Ich glaube, dass die Haltung des Westens wesentlich zu diesem Krieg beigetragen hat.” So ganz aus der Luft gegriffen, so propagandistisch, so krud und so irritierend, wie ihnen von den westlichen Medien unterstellt wurde, scheinen also die Erklärungen Putins in seiner Rede am 9. Mai in Moskau nicht gewesen zu sein. Dies umso weniger, als man sich einmal das Umgekehrte vorzustellen versucht, nämlich, dass Mexiko oder Kanada oder gleich alle beide einem Militärbündnis mit Russland beitreten würden – die darauf erfolgende Reaktion der USA kann man nur im Entferntesten erahnen…

Das Huhn oder das Ei. Man könnte lang hin- und herdiskutieren. Vielleicht käme man am Ende zum Schluss, dass die Wahrheit weder gänzlich auf der einen noch gänzlich auf der anderen Seite liegt, sondern irgendwo dazwischen. Doch weil die einen ebenso felsenfest davon überzeugt sind, dass Russland der Hauptschuldige sei, wie die anderen ebenso felsenfest davon überzeugt sind, dass der Westen der Hauptschuldige ist, macht dies eine Lösung des Konflikts so schwierig, ja nahezu unmöglich. Eine Lösung wird nur möglich, wenn beide Seiten von ihrer Maximalposition Abschied nehmen und bereit sind, die eigene Schuldhaftigkeit und Mitverantwortung einzugestehen. Der Friedenslogik gegenüber der Kriegslogik eine Chance zu geben. Das würde ganz simpel mit einem kleinen Schritt möglich werden, nämlich der Bereitschaft, anzuerkennen, dass, wie es der Philosoph Hans-Georg Gadamer sagte, “auch der andere Recht haben könnte.” 

Gestern flimmerte der erste Halbfinal des Eurovision Song Contest über die TV-Bildschirme. Am Eröffnungsakt waren ein britischer Junge und ein Mädchen aus der Ukraine beteiligt, zwischen ihnen eine unsichtbare Trennwand, die sich in dem Moment auflöste, als die Kinderhände sie berührten, worauf die beiden Kinder gemeinsam ihren Weg gingen. Um wie viel bedeutungsvoller hätte diese zauberhafte Szene wohl wirken können, wenn sich nicht ein englischer Junge und ein Mädchen aus der Ukraine gefunden und befreit hätten, sondern ein Kind aus der Ukraine und eines aus Russland…