Wir stehen heute nicht am Scheideweg zwischen einem Sieg der Ukraine oder einem Sieg Russlands – wir stehen am Scheideweg zwischen Krieg oder Frieden

 

Mehr als 7000 russische Soldaten, so die “New York Times”, könnten im Ukrainekrieg bereits gefallen sein. Ukrainische Quellen sprechen sogar von 13’500 Toten. In knapp drei Wochen hätte Russland somit mehr Soldaten verloren als die USA in den 20 Jahren Irak- und Afghanistankrieg zusammen. Dazu kommen erst noch, je nach Schätzung, 14’000 bis 21’000 Verwundete. Doch sagen alle diese Zahlen rein gar nichts aus über das unermessliche Leiden, das sich dahinter verbirgt: siebzehn- und achtzehnjährige Wehrpflichtige, kaum richtig ausgebildet, in einen Krieg geschickt, von dem ihnen eingetrichtert worden war, es handle sich bloss um ein Manöver, eingequetscht in viel zu enge Panzerkabinen, tagelang ohne Nachschub an Essen und Treibstoff, quälender Kälte ausgesetzt, traumatisiert durch die allesdurchdringenden Schmerzensschreie zu Tode getroffener Leidensgenossen, in ständiger Angst vor ihren Vorgesetzten, welche schärfste Sanktionen ergreifen würden, sollte nur ja einer auf die Idee kommen, dieser Hölle durch eine Flucht über die Frontlinie zu entrinnen. Und für jeden der Gefallenen und Verwundeten eine ganze Familie irgendwo im fernen Moskau, in Wladiwostok oder Nowosibirsk, Eltern, Grosseltern, Frau und Kinder, die vor lauter Angst um den geliebten Vater nicht mehr schlafen können und sich selber infolge der Sanktionen des Westens immer öfters auch das Lebensnotwendigste nicht mehr leisten können. Nicht nur die Ukrainerinnen und Ukrainer, auch die russische Bevölkerung und ganz besonders die russischen Soldaten leiden in diesem sinnlosen, verbrecherischen Krieg unermesslich. Der Unterschied ist nur: Das Leiden der Ukrainerinnen und Ukrainer hat in der westlichen Öffentlichkeit, in den Zeitungen, am Fernsehen und in den sozialen Medien ein Gesicht. Die Russinnen und Russen dagegen leiden unsichtbar. Denn sie sind ja, aus der Sicht des Westens, die “Bösen” – egal ob es sich um Putin, um die russischen Soldaten, um die russische Bevölkerung oder um russische Künstlerinnen und Künstler handelt, welche von westlichen Theater- und Konzerthäusern boykottiert werden. Eine gefährliche Schieflage, die – angeheizt durch den ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenski in seinen Videobotschaften an das amerikanische und das deutsche Parlament – immer mehr auf den Kampf zwischen dem “Guten” und dem “Bösen” hinausläuft, immer stärker von Kriegs- und Durchhalteparolen bestimmt wird und immer weniger von der Suche nach einer gemeinsamen Friedenslösung. Im Gegenteil: Wer immer noch für Verständigung und für Kompromisse eintritt, wird schon fast als ewiggestriger Träumer belächelt. Dabei ist nichts so naiv wie die Vorstellung, man könne einen Krieg gewinnen, indem man seinen Feind vernichtet, selbst auf die Gefahr hin, damit einen Weltkrieg auszulösen. Das einzig wirklich Realistische und Vernünftige ist, sich auszusöhnen und sich gegenseitig die Hände zu reichen. Drei Berichte, auf die ich – fernab vom kriegerischen medialen Mainstream – gestossen bin, geben mir trotz allem Hoffnung. Der erste: Seitens der russischen Regierung liegt mittlerweile ein 15-Punkte-Plan zu einer Friedenslösung mit der Ukraine vor. Die wichtigsten Elemente: Die Ukraine gibt ihre Ambitionen auf, der NATO beizutreten; die Ukraine verzichtet auf ausländische Militärbasen im Land; die Ukraine soll eine eigene Armee behalten; Staaten wie die USA, Grossbritannien und die Türkei sollen zusätzlich die ukrainische Sicherheit garantieren; die russischen Truppen ziehen sich aus der Ukraine zurück. Was ist an diesem Plan so ungeheuerlich? Weshalb hetzt Selenski die NATO-Staaten gegen Russland auf, statt sich ernsthaft auf den Vorschlag Russlands einzulassen? Offenbar hat die ukrainische Regierung zu wenige überzeugende Gegenargumente, steht dem Plan aber skeptisch gegenüber, weil man den Russen “nicht trauen” könne. Wer aber so denkt, verunmöglicht a priori jede Friedenslösung und müsste dann eigentlich konsequenterweise schon gar keine Friedensverhandlungen führen, denn jeglicher Versuch einer Verständigung ist ohne eine gegenseitige Vertrauensbasis zum Vornherein zum Scheitern verurteilt. Der zweite Bericht, ebenfalls fernab von medialem Scheinwerferlicht: Am 17. März 2022 erliessen ukrainische und russische Ärztinnen und Ärzte einen gemeinsamen Friedensappell. Er lautet wie folgt: “Wir rufen die Verantwortlichen der Konfliktparteien und der USA dazu auf, alles daran zu setzen, konstruktive und effektive Verhandlungen zur Wiederherstellung des Friedens in der Ukraine zu beschleunigen, um die Menschenleben in der Ukraine und Russland zu retten.” Der dritte Bericht betrifft die 28jährige russische Cellistin Anastasia Kobekina. Sie war von der Kartause Ittigen im schweizerischen Thurgau aus politischen Gründen ausgeladen worden, obwohl sie sich dezidiert gegen den Einmarsch Russlands in die Ukraine ausgesprochen hatte. Die Entrüstung über die Absage des Konzerts war aber in der Kulturszene so gross, dass gleich zwei Veranstalter in die Bresche springen wollten, um dennoch ein Konzert mit Anastasia Kobekina zu ermöglichen. In wenigen Tagen wird das Konzert nun stattfinden und als Zeichen der Aussöhnung wird Kobekina zusammen mit einem Geiger aus der Ukraine auftreten und nebst anderen auch ukrainische Werke interpretieren. Wir stehen heute nicht am Scheideweg zwischen einem Sieg der Ukraine oder einem Sieg Russlands. Wir stehen am Scheideweg zwischen Krieg oder Frieden. Wie dieser ausgehen wird, dazu können wir alle etwas beitragen, sowohl die Politiker und Politikerinnen, wie auch die Medien und wie auch jede Einzelne und jeder Einzelne von uns.