«Wir können nicht einfach nur die Fassade ändern»

Im Dokumentationsfilm «Das Schweigen der Vögel», in dem es um das Verschwinden der Vögel aus der Schweizer Landschaft geht, sagt der Umweltwissenschaftler Philipp Roc: «Wir müssen diesen Wachstumswahnsinn stoppen. Dieses Modell funktioniert nicht. Die Welt hat ihre Grenzen und wir können nicht immer weiter wachsen. An ewiges Wachstum zu glauben, ist eine Illusion. An einem bestimmten Punkt ist Schluss. Es wäre besser, nicht zu warten, bis die Natur uns stoppt, wenn es kein Wasser mehr gibt und keine Nahrung und wir unsere Nachbarn wegen des letzten Stück Schinkens umbringen. Es wäre klug, ein Leben im Gleichgewicht mit der Natur anzustreben, statt mit diesem absurden System von Wachstum und Wettbewerb weiterzumachen.» Und Dominique Bourg, Professor an der Universität Lausanne, meint: «Nur so etwas nebenbei reicht nicht. Wir müssen mit voller Kraft systematisch handeln. Unser ganzes System, das sich über Jahrhunderte entwickelt har, ist betroffen. Wir können nicht einfach nur die Fassade ändern, wir müssen das System im Kern ändern.»

(«Das Schweigen der Vögel», Schweizer Fernsehen SRF1, 20. März 2019)

Wir müssen das System im Kern ändern. Mit anderen Worten: Wir müssen den Kapitalismus überwinden. Doch noch laufen wir mit Scheuklappen durch die Welt: Hier die Gewerkschaften, die sich für faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen einsetzen, aber mit Naturschutz und dergleichen nichts am Hut haben. Dort die Sozialdemokraten, die sich zwar zähneknirschend die «Überwindung des Kapitalismus» ins Parteiprogramm geschrieben haben, in der parlamentarischen Kleinarbeit aber nichts davon in die Realität umsetzen. Hier die Grünen, die sich auf Naturschutz, Energiepolitik und ökologische Themen eingeschossen haben, für die aber gewerkschaftliche Fragen ein rotes Tuch sind. Dort die Bauern, die sich wegen der Konkurrenzierung durch ausländische Produkte Sorgen machen, aber nicht im Traum auf den Gedanken kommen, dieses Problem durch eine Änderung des globalen Wirtschaftssystems anzupacken. Und so bewegen sich alle mit ihren Scheuklappen rund um den heissen Brei, ohne es offen auszusprechen, was doch, wenn man ehrlich wäre, insgeheim alle ahnen: Alles, ob Arbeitsbedingungen oder Naturschutz, ob Lohnfragen oder existenzielle Bedrohungen der Landwirtschaft, alles hängt mit allem zusammen und dieses Gemeinsame ist eben der Kapitalismus. Die Forderung, dass wir das «System im Kern ändern» müssen, können wir nur erfüllen, wenn wir alle unsere gegenseitigen Schauklappen ablegen und nicht mehr das uns voneinander Trennende und uns Unterscheidende in den Vordergrund stellen, sondern das Gemeinsame und uns Verbindende.