“Wir brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben”: Die absurden Ideen des “Wirtschaftshistorikers” Tobias Straumann zum Thema Kolonialismus…

“Die Menschen wollen hören, dass unser Wohlstand auf Blut aufgebaut ist” – so der Titel eines zweiseitigen Interviews mit dem “Wirtschaftshistoriker” Tobias Straumann in der “Sonntagszeitung” vom 28. Juli 2024. Schon mit dieser Aussage suggeriert Straumann, dass eine kritische Sicht auf die Geschichte des Kolonialismus offenbar nicht so sehr mit historischen Gegebenheiten begründet sei, sondern vielmehr ein Zugeständnis sei an ein Publikum, welches hören wolle, dass der westliche Wohlstand möglicherweise auf Verbrechen in der Vergangenheit beruhen könnte. Was für eine absurde Behauptung! Tatsächlich ist es doch genau umgekehrt: Die meisten Menschen wollen eben gerade nicht ein schlechtes Gewissen haben und möglichst nicht daran erinnert werden, dass unser westlicher Wohlstand auch eine ganz andere, dunkle Seite haben könnte. Umso wichtiger ist die wissenschaftliche Aufarbeitung der Zusammenhänge zwischen Reichtum auf der einen, Elend und Ausbeutung auf der anderen Seite. Aber davon will Straumann, wie die folgenden Ausschnitte aus dem Interview zeigen, offensichtlich ganz und gar nichts wissen.

Auf die Frage, ob die Schweizerinnen und Schweizer ein Volk von Ausbeutern, Profiteuren und Komplizen des Kolonialismus sei, antwortet Straumann mit der Gegenfrage: “Wie kommen Sie darauf?”, um dann weiter auszuführen: “Ein solches Bild ist völlig übertrieben.” Im Widerspruch dazu steht dann aber folgende Aussage: “Wir wissen schon lange, dass Schweizer Kaufleute bereits im 18. Jahrhundert sehr international orientiert waren und deshalb direkt oder indirekt mit Kolonialismus und Sklaverei zu tun hatten.” Aha, also doch? Gänzlich kann ja auch Straumann nicht sämtliche historische Tatsachen ausblenden. Und doch geht durch seine ganzen Ausführungen hindurch ein fast reflexartiges sich Aufbäumen und die Zurückweisung all jener Theorien, wonach die Schweiz einen wesentlichen Anteil ihres Wohlstands kolonialer Ausbeutung in Vergangenheit und Gegenwart verdanke: “Dass die Schweiz mitverantwortlich sei für das Elend der Welt”, so Straubhaar, “diese Behauptung ist historisch und theoretisch falsch.”

Vielmehr sei, so Straumann, der heutige Wohlstand der Schweiz – und damit auch der anderen westlichen Länder des globalen Nordens – sozusagen fast ausschliesslich der Eigenleistung dieser Länder zu verdanken: “Länder werden nur reich, wenn sie konstant die Effizienz und die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft durch Forschung, Entwicklung und Innovation zu steigern vermögen.” Deshalb kann Straumann auch den Thesen von Howard French, US-Publizist, Uniprofessor und Autor des Bestsellers “Afrika und die Entstehung der modernen Welt”, wonach erst die Gewinne aus dem transatlantischen Sklavengeschäft die europäische Industrialisierung ermöglicht hätten, ganz und gar nichts abgewinnen: “Diese These ist falsch, kein seriöser Historiker teilt sie.”

Was aber tatsächlich falsch ist, das ist nicht diese These von Howard French, sondern die Behauptung Straumanns, die europäische Industrialisierung – und damit die Grundlage des modernen Kapitalismus – hätte nichts zu tun mit dem transatlantischen Sklavengeschäft. Das pure Gegenteil ist der Fall. Nur dank der gnadenlosen Ausbeutung von rund 15 Millionen afrikanischen Sklavinnen und Sklaven auf den Plantagen und in den Bergwerken Amerikas konnten jene Profite erwirtschaftet werden, dank denen europäische Banken und Handelshäuser entstehen konnten und damit die finanzielle Basis für die Industrialisierung. Und nur weil alle hierzu benötigten Rohstoffe wie Baumwolle, Metalle, aber auch Landwirtschaftsprodukte wie Zucker, Kakao und Kaffee zu dermassen tiefen Preisen oder fast kostenlos aus dem Süden in den Norden verfrachtet wurden und dort zu industriellen Fertigprodukten verarbeitet und zu einem x-fach höheren Preis weiterverkauft werden konnten, wurden die Länder des Nordens immer reicher und verarmten die Länder des Südens gleichzeitig immer mehr – koloniale Ausbeutung, die bis zum heutigen Tag ungebrochen weitergeht: Wo früher in den Ländern des Südens Nahrungsmittel für die Eigenversorgung angebaut wurden, werden heute fast ausschliesslich Produkte angebaut, die für den Export in die reichen Länder bestimmt sind, der überwiegende Teil davon Luxusprodukte, die auf den Tischen der Reichen landen, und zwar in einem derartigen Überfluss, dass rund ein Drittel davon gar nicht konsumiert wird, sondern im Abfall landet – während gleichzeitig in den Ländern des Südens jeden Tag rund 10’000 Kinder schon vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben.

Tatsachen, die heute in jeder einigermassen seriösen wissenschaftlichen Analyse zu finden sind. Ich frage mich, was für Bücher Tobias Straumann liest. Und ich frage mich, ob er sich noch nie gefragt hat, weshalb die Schweiz so reich ist. In Anbetracht der Tatsache, dass die Schweiz praktisch über keinerlei Bodenschätze verfügt und der Anteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche weit geringer ist als in den meisten anderen Ländern, müsste die Schweiz nämlich eines der ärmsten Länder der Welt sein. Dass sie eines der reichsten ist, ist nur mit – kapitalistischen – Handels- und Ausbeutungsbeziehungen zu erklären: Grosskonzerne wie Nestlé verdanken ihre Riesengewinne nahezu ausschliesslich der Differenz zwischen tiefen Rohstoffpreisen und x-fach höheren Preisen für Fertigprodukte – von den zehn Franken, die wir bei Starbucks für eine Tasse Kaffee bezahlen, sieht die Kaffeebäuerin in Kenia, die zwölf Stunden pro Tag schuftet und mit ihrem Lohn dennoch ihre Familie kaum zu ernähren vermag, bloss ein paar wenige Rappen. Keinen Tropfen Öl finden wir in Schweizer Boden, kein Körnchen Gold und kein Körnchen Silber, keinen einzigen Diamanten, nicht ein Milligramm Lithium oder Kobalt – und doch verdienen Rohstoffkonzerne wie Glencore oder Xstrata mit dem Kaufen und Verkaufen dieser Produkte und mit ihrem Hin- und Herschieben über den gesamten Globus Milliardengewinne. Auch von den fast 8000 Milliarden Franken, welche auf Schweizer Banken liegen, stammt rund die Hälfte aus dem Ausland, gewonnen aus der Verwertung natürlicher Ressourcen und der Arbeitsleistung von Millionen von zu Hungerlöhnen schuftender Arbeiterinnen und Arbeiter in Ländern, wo es an allem mangelt. Laut der Entwicklungsorganisation Oxfam erwirtschaftet die Schweiz im Handel mit sogenannten “Entwicklungsländern” einen 50 Mal höheren Gewinn, als sie diesen Ländern in Form von “Entwicklungshilfe” wieder zurückerstattet. Wenn Straumann behauptet, der “Anteil der Schweizer Wirtschaft am globalen Kolonialismus” sei “unbedeutend” gewesen, so ist das nichts anderes als eine totale Geschichtsverfälschung. Kolonialismus besteht ja nicht nur darin, wie stark ein Land in den transatlantischen Sklavenhandel verstrickt war – obwohl auch hier die Schweiz durchaus ganz gehörig ihre Finger im Spiel hatte, wie mehrere neuere Studien belegen -, sondern vor allem auch darin, wie stark ein Land in das global installierte kapitalistische Wirtschafts-, Ausbeutungs- und Machtsystem integriert ist – und es wird wohl niemand ernsthaft bestreiten können, dass die Schweiz da an vorderster Front stets mit dabei ist, dieses Land, das Jean Ziegler dereinst sogar als “Gehirn des Monsters” bezeichnete.

Tatsachen, von denen Straumann offensichtlich nichts wissen will. Stattdessen versteigt er sich zu Behauptungen wie “Handel entsteht dann, wenn beide Seiten einen Gewinn daraus ziehen”, “Die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung hat heute einen viel höheren Lebensstandard als praktisch alle Menschen, die vor 1800 lebten”, “Der Westen ist die einzige Kultur, welche die Sklaverei wirklich abgeschafft hat” und “Selbstkritik ist eine grosse Stärke der westlichen Kultur”. Aussagen, die jeglicher wissenschaftlicher Seriosität zutiefst widersprechen: Erstens wäre es ja schön, wenn Handel immer beiden Seiten zugute käme, aber diese Idealvorstellung existiert wohl nur in der naiven Traumwelt eines “Wissenschaftlers”, der selber zu jener Gesellschaftsschicht gehört, die von finanziellen Alltagssorgen fast gänzlich befreit ist und offensichtlich nicht mehr mitbekommt, dass die meisten “Handelsbeziehungen” stets auch mehr oder weniger krasse “Ausbeutungsbeziehungen” sind, in denen höchst selten alle über die gleich langen Spiesse verfügen, um ihre Interessen auch tatsächlich adäquat durchzusetzen. Zweitens trifft es zwar zu, dass ein grosser Teil der Weltbevölkerung über ein historisch einmalig hohes Niveau von Wohlstand verfügt, aber eine solche Behauptung verliert ganz und gar ihre Glaubwürdigkeit, wenn man nicht gleichzeitig auch darauf hinweist, dass die Einkommens- und Vermögensunterschiede weltweit ebenfalls in der Geschichte noch nie so gross waren wie heute und dass der “durchschnittliche” Wohlstand all jenen über 800 Millionen Menschen, die jeden Abend hungrig schlafen gehen, ganz und gar nichts nützt, und zudem der heutige “Wohlstand” zu einem überwiegenden Teil auf einer derart massiven Ausbeutung der natürlichen Lebensgrundlagen beruht, dass von diesem “Wohlstand” für zukünftige Generationen nur wenig oder vielleicht sogar überhaupt nichts mehr übrig bleiben wird. Drittens ist es geradezu zynisch, davon zu sprechen, der Westen sei die einzige “Kultur”, welche die Sklaverei abgeschafft habe. Bevor man sie nämlich abschaffen konnte, musste man sie erst einmal schaffen, und dies war ganz und gar ein Werk kapitalistisch-westlicher “Kultur”. Zudem verschweigt Straumann an dieser Stelle, dass sklavenartige Arbeitsverhältnisse bis in die Gegenwart andauern: Noch heute müssen gemäss Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO weltweit 28 Millionen Menschen Zwangsarbeit verrichten, auf Baustellen, in Steinbrüchen, auf Feldern, in Minen, in Textilfabriken, als Hausangestellte oder in der Prostitution. 160 Millionen Kinder zwischen 5 und 17 Jahren sind gezwungen, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, weil ihre Familien sonst nicht überleben könnten, viele von ihnen müssen unter gefährlichen Bedingungen arbeiten, sind giftigen Substanzen ausgesetzt oder müssen viel zu schwere Lasten tragen. Viertens ist auch die Behauptung, Selbstkritik sei eine “grosse Stärke der westlichen Kultur” in Anbetracht der Tatsache, dass die USA als führende westlich-kapitalistische Staatsmacht seit 1945 über 40 völkerrechtswidrige Kriege und Militärschläge mit über 50 Millionen Todesopfern angezettelt haben, ohne dass dies jemals zu Einsicht, Reue oder einer grundsätzlichen Neubesinnung geführt hätte, mehr als vermessen.

Befremdlich ist nicht nur, dass ein “Wirtschaftshistoriker” mit Fakten und Zusammenhängen, die doch eigentlich sein Forschungsgebiet sein müssten, dermassen einseitig und geradezu demagogisch umgeht, bloss um sein eigenes Weltbild aufrechtzuerhalten und gegen jegliche Störfaktoren zu verteidigen. Mindestens so befremdlich ist, dass ein allgemein als seriös und “objektiv” wahrgenommenes Informationsmedium wie die “Sonntagszeitung” solchen Ausschweifungen ganze zwei Zeitungsseiten zur Verfügung stellt, ohne wenigstens in Form eines redaktionellen Kommentars die eine oder andere Aussage zu relativieren, zu ergänzen oder kritisch zu hinterfragen. Auf erschreckende Weise wird in solchen Momenten deutlich, wie weit Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien offensichtlich schon zu einem Machtsystem verschmolzen sind, das bereits als völlig “normal” und “alternativlos” hingenommen wird und keine grundsätzlich anderen Sicht- und Denkweisen mehr zulässt. Mitgeschrieben von einem “Wirtschaftshistoriker”, von dem man eigentlich erwarten würde, ein bisschen etwas sowohl von Wirtschaft wie auch von Geschichte zu verstehen, und der sogar so anmassend ist, seine eigene “Wahrheit” als die einzig richtige darzustellen und allen anderen vorzuwerfen, sie hätten bloss populistische Motive und würden nur deshalb die Geschichte des Kolonialismus kritisch analysieren, weil dies gerade “im Trend” und nun leider auch “auf die Schweiz übergeschwappt” sei.