«Wir brauchen eine ganze andere Philosophie»

Der regierungsamtliche Ausschuss Grossbritanniens für Klimawandel schätzt, dass bis zum Jahr 2080 100’000 Häuser «über die Klippe» gehen könnten, wenn, wie mittlerweile befürchtet, Sturm, Regen und Erosion wegen des Klimawandels zunehmen und der Meeresspiegel um einen vollen Meter steigt. Und das wären nur die Opfer bröckelnder Küsten auf der Insel. Millionen Briten steht im Ansturm der Wetter und Wogen regelmässige oder gar permanente Überflutung  ihrer Häuser und Wohnungen bevor. Ganze Strassennetze und Eisenbahntrassen, fast hundert Bahnhöfe, aber auch zahllose Kraftwerke, Ölraffinerien, Gas-Terminals und rund tausend hochgiftige Abfalllager in tiefgelegenen Landstrichen an den Küsten sind über kurz oder lang gefährdet. Für Emma Howard Boyd, die Chefin des Umweltamtes, besteht kein Zweifel mehr daran, was auf ihre Leute da zu kommt – und warum. «Überschwemmungen hat es natürlich immer gegeben», meinte sie. «Aber der Klimawandel nimmt zu und beschleunigt diese Gefahren. Und wir können einen Krieg gegen das Wasser nicht gewinnen, indem wir nur immer höhere Dämme bauen.» Stattdessen brauche man, meint Boyd, «eine ganz andere Philosophie»… Manche Landstriche werden bei einem wirklich dramatischen Anstieg des Meeresspiegels und gleichzeitiger starker Zunahme von Regenfällen nicht zu retten sein. «Letztlich», erklärte die Umweltamts-Chefin erstmals offen, «werden wir ganze Gemeinden in Sicherheit bringen müssen.» Für viele wird eine Rückkehr nicht mehr möglich sein… Fast 200 Kilometer oft dicht besiedelter Küste gelten als unmittelbar flutgefährdet, von alten Städtchen wie Great Yarmouth oder Lyme Regis bis zu den Neubaugebieten in der Themsemündung oder am Humber… Schlimmstenfalls, warnen Experten, können sogar Städte wie Norwich oder Liverpool den Fluten zum Opfer fallen. So hoch über dem Meer liegen sie nicht… Schon im nächsten halben Jahrhundert, befürchten Forscher, könnten Schächte der Londoner U-Bahn und Teile der Kanalisation der 9-Millionen-Stadt von einer anschwellenden Themse überwältigt werden. Ein neues, grösseres Themse-Sperrwerk im Vorfeld das alten ist bereits in Planung. Im Falle Londons sei der «ökonomische Nutzen» massiver Schutzvorrichtungen höher als an den meisten Küsten, rechtfertigen Londons Verteidiger ihr Projekt. «Und das», meint Professor Jim Hall vom regierungsamtlichen Ausschuss für Klimawandel, «ist nur der Anfang dessen, was der Klimawandel uns kosten wird.»

(Tages-Anzeiger, 13. Mai 2019)

Noch nie waren Landesgrenzen so bedeutungslos wie heute. Konnten sich die einzelnen Staaten bis vor Kurzem noch hinter ihren Armeen verschanzen, mittels Handel oder eigenen Bodenschätzen und Landwirtschaftsgebieten ihren Wohlstand sichern und das gesellschaftliche Leben nach eigenen Gesetzen organisieren, so ist das heute, seit der Klimawandel weltweit immer tiefere Wunden aufreisst, nicht mehr möglich. Wir sitzen nicht mehr in 200 verschiedenen Booten, wir sitzen in einem einzigen Boot. Und entweder geht dieses Boot unter, oder wir schaffen es, dies zu verhindern. Das im Artikel erwähnte Beispiel der Kosten, die in Grossbritannien für Massnahmen gegen den Klimawandel anfallen werden, zeigt, dass eine «technische» Lösung des Problems gar nicht möglich ist – die Kosten würden exorbitante Ausmasse annehmen und nicht nur in den armen Ländern des Südens, sondern auch in den reichen Ländern des Nordens jegliches Staatsbudget ins Unermessliche pulverisieren. Deshalb gibt es nur eine Lösung, so wie sie auch an den von Schülerinnen und Schülern weltweit organisierten Klimastreiks immer deutlicher zu vernehmen ist: «System Change, not Climate Change» – genau das, was auch Emma Howard Boyd, die Chefin des britischen Umweltamtes, meinte, als sie sagte, wir bräuchten eine «ganz andere Philosophie». Deshalb ist die Klimastreikbewegung der weltweiten Jugend zwar das Vernünftigste und Beste, was man sich nur erträumen kann, zugleich aber doch bloss ein erster zaghafter Anfang von etwas viel Grösserem, das noch kommen wird.