Wie vor 500 Jahren

«Wir spüren weder Flugscham noch Greta-Effekt.» Das sagt Michael Niggemann, Finanzchef der Suisse. Die Auslastung habe sich sogar noch erhöht. Monate der Klimastreiks und politischen Debatten haben der Fliegerei nichts anhaben können. Trotzdem ist die Flugscham spürbar. Nicht bei der Swiss, dafür bei den Anbietern von CO2-Kompensationen. Ihre Webrechner laufen auf Hochtouren. Wer seine Flugreise CO2-neutralisieren will, wendet sich dabei häufig an Myclimate. Über den Webrechner der Zürcher Stiftung sind bis Ende Juli 2019 rund 400 Prozent mehr CO2 wettgemacht worden als im selben Zeitraum 2018. Ein Grossteil des Geldes fliesst in Entwicklungsländer und ist dort für lokale Engagements bestimmt, die dem Klimawandel entgegenwirken sollen.

(Tages-Anzeiger, 8. August 2019)

Worüber niemand spricht: Der Schaden, den ein Flugpassagier anrichtet, ist ungleich viel grösser als der Nutzen, den er mit seiner «Kompensationszahlung» bewirkt. Das Ganze erinnert an den mittelalterlichen Ablasshandel, mit dem man sich – so zumindest das Versprechen der Priester – mit barer Münze von seinen Sünden freikaufen konnte, um nicht in die Hölle, sondern in den Himmel zu kommen. Bis Martin Luther kam und dem ganzen Spuk ein Ende setzte. Sind wir tatsächlich, 500 Jahre später, immer noch so blindlings gläubig? Bilden wir uns ernsthaft ein, die Zukunft mit barer Münze retten zu können? Und wo ist ein Martin Luther, der dem ganzen Irrglauben ein Ende setzen könnte?