Wie soll die Demokratie auf dem Schlachtfeld verteidigt werden, wenn sie nicht einmal gegenüber der eigenen Bevölkerung gepflegt wird?

 

Die deutsche Aussenministerin Baerbock besucht Kiew und zeigt sich beeindruckt vom Mut der Ukrainerinnen und Ukrainer im Kampf gegen die russische Aggression. Deutschland stellt der Ukraine die Lieferung von Panzern in Aussicht. Finnland möchte unverzüglich in die NATO aufgenommen werden. In ihrer Verurteilung der russischen Aggression, die es mit allen Mitteln zu stoppen gälte, sind sich alle NATO-Staaten einig, sämtliche historische Hintergründe – die NATO-Osterweiterung bis an die Grenze Russlands, die jahrzehntelange Diskriminierung der russischen Bevölkerung in der Ukraine, die mögliche Beteiligung der CIA beim Regierungssturz anfangs 2014 in Kiew, das gewalttätige Vorgehen des ukrainischen Asow-Regiments gegen die Zivilbevölkerung in der Ostukraine -, alles wie weggeblasen. Doch die scheinbare Einigkeit, das Zusammenrücken der Regierungen scheint sich je länger je mehr von der Stimmung in der jeweiligen Bevölkerung zu entfernen. So sprachen sich gemäss des Meinungsforschungsinstituts Infratest im Auftrag des TV-Senders ARD am 28. April nur noch 45 Prozent der Deutschen dafür aus, der Ukraine Panzer zu liefern – anfangs April waren es noch 55 Prozent gewesen. Oben eine eingeschossene “Regierungsbande” mit gegenseitiger Lobhudelei – man denke nur an die schon fast skurril erscheinenden Stelldicheins westlicher Politiker und Politikerinnen bei Selenski in Kiew und Butscha, die mit strahlenden Gesichtern, sich gegenseitig auf die Schultern klopfend durch das Trümmerfeld zerbombter Stadtteile marschieren. Unten die Bürgerinnen und Bürger ihrer Länder, die sich auch so ihre Gedanken machen, die denen “oben” ganz und gar nicht passen würden. Und die Medien durchbrechen diese geteilte Welt, wenn überhaupt, nur selten und zaghaft. So sind neuerdings in de Talkhows auf deutschen Kanälen zwar immer wieder Vertreterinnen und Vertreter der Friedensbewegung zu sehen, aber pro Sendung immer nur einer, obwohl sie ja, gemäss Umfrage, die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren würden. Auch die von Papst Franziskus am 3. Mai abgegebene Erklärung, wonach die NATO eine wesentliche Mitschuld am Ukrainekrieg trage, wurde weder von einer grossen Tageszeitung noch von einem TV-Nachrichtenmagazin verbreitet, ebenso wenig wie die Nachricht, für einen vom Dalai Lama lancierten Friedensappell seien mittlerweile schon über eine Million Unterschriften zusammengekommen. Unerwähnt bleibt meist auch, dass sie die meisten Länder der Welt nicht an den Sanktionen gegen Russland beteiligen. So zum Beispiel Mexiko, dessen Präsident Andrés Manuel Lopez sagte: “Das Beste ist, den Dialog zu fördern, um Frieden zu erreichen.” Oder Argentinien, dessen Aussenminister Santiago Cafiero, zu bedenken gab: “Sanktionen sind kein Mechanismus, um Frieden und Harmonie zu schaffen.” Oder die Stimme von Yanis Varoufakis, des ehemaligen griechischen Finanzministers: “Niemand kann diesen Krieg gewinnen. Der einzige Ausweg liegt in einem Friedensschluss, der von Russland, der USA und der EU gestützt wird.” Es täte den Regierungen wohl gut, immer wieder aus ihrer “Blase” auszusteigen und all jenen Menschen ernsthaft zuzuhören, die von all den Geschehnissen und Folgekosten rund um die Ukrainekonflikt mindestens so stark betroffen sein werden wie sie selber. Heisst es nicht immer so schön, in der Ukraine ginge es nicht nur um einen Kampf zwischen zwei Ländern, sondern um einen Kampf zwischen Demokratie und Autokratie? Doch wie soll die Demokratie auf dem Schlachtfeld verteidigt werde, wenn sie nicht einmal im Umgang mit der eigenen Bevölkerung gepflegt wird?