Dieser Krieg hat nicht erst am 24. Februar 2022 begonnen…

 

Liest man heute eine Zeitung oder schaut man sich am Fernsehen Nachrichten oder Debatten zum Ukrainekrieg an, dann bekommt man den Eindruck, als hätte das Unheil mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 schlagartig von einem Tag auf den andern begonnen und wäre die ganze Welt zuvor in Ordnung gewesen. Tatsächlich aber gibt es eine Vorgeschichte und man kann die Gegenwart nur verstehen, wenn man auch diese Vorgeschichte kennt…

Diese beginnt spätestens mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991. Damals signalisierten mehrere westliche Politiker, darunter François Mitterand und George Bush, es bestünde seitens des Westens nicht die Absicht, die NATO infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion nach Osten auszudehnen. Ein weiterer dieser Politiker war der deutsche Aussenminister Genscher. Er sagte im Februar 1990: “Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Vertragsbündnis nach Osten auszudehnen. Das gilt nicht nur in Bezug auf die DDR, sondern ganz generell.” Wer an diese Worte erinnert, dem wird stets entgegengehalten, es hätte sich da bloss um mündliche Zusicherungen gehandelt und es hätte nie schriftliche Verträge gegeben. Doch sollte das Wort eines ehrenhaften Staatsmannes nicht auch dann seine Gültigkeit haben, wenn es “nur” mündlich abgegeben wird? Gilt in der zivilen Rechtssprechung nicht auch der Grundsatz, dass mündliche und schriftliche Abmachungen die gleiche Verbindlichkeit haben? Nun, wir wissen alle, was folgte: die schrittweise Erweiterung der NATO, die bis 2020 Land um Land voranschritt, bis hin an die Grenzen Russlands und ohne je auf die Bedenken und Einwände der russischen Seite auch nur ansatzweise einzugehen. Dabei hätte es selbst innerhalb der USA genug warnende Stimmen gegeben, so etwa eine entsprechende Deklaration von über 40 ranghohen Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Militär gegen eine NATO-Osterweiterung oder die Erklärung des Historikers George F. Kennan, der 1997 Folgendes verlautbaren liess: “Die Entscheidung, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.” 

Doch die NATO, allen voran die USA, dachten nicht daran, von ihrer Strategie abzurücken. Im Gegenteil: Anfangs 1999 gab sich die NATO eine neue Doktrin. Künftig sollte man nicht nur zur Verteidigung des eigentlichen Bündnisgebiets agieren können, sondern auch um “andernorts Konflikte zu verhüten oder Krisen zu bewältigen”, was Militäreinsätze ausserhalb des Bündnisgebiets einschliessen würde. Was dies bedeuten sollte, bekam Russland unverzüglich zu spüren: Im März 1999 griff die NATO in den Kosovokrieg ein und begann mit Luftangriffen gegen Belgrad. Dies alles ohne UN-Mandat, dessen Erteilung Russland im UNO-Sicherheitsrat verhindert hatte. Dieser kriegerische Akt der NATO wurde auch von zahlreichen westlichen Politikern als völkerrechtswidrig betrachtet. Weitere NATO-Operationen aufgrund ihrer neuen Doktrin erfolgten dann 2001 bis 2021 in Afghanistan und 2011 in Libyen. 

Trotz allem sandte Wladimir Putin, 2000 zum russischen Präsidenten gewählt, versöhnliche Zeichen nach dem Westen. 2001, bei einem Staatsbesuch in Deutschland, brachte er eine Freihandelszone von Wladiwostock bis Lissabon ins Gespräch und signalisierte sogar die Bereitschaft, über einen russischen NATO-Beitritt zu sprechen. Noch 2008 schlug Russland eine gemeinsame “paneuropäische Sicherheitsarchitektur” vor und 2010 erneuerte Putin seinen Vorschlag einer engen Wirtschaftskooperation zwischen Russland und der EU. Alle diese Vorstösse wurden indessen vom Westen in den Wind geschlagen und stattdessen wurde mit der NATO-Osterweiterung eifrig vorwärtsgemacht. Selbst die Ukraine wurde schon früh ins Visier genommen, ein 1997 abgeschlossener Kooperationsvertrag ermöglichte die Übernahme von US-Standards durch die ukrainische Armee, gemeinsame Trainings und Waffenlieferungen. Doch auch hier gab es warnende Stimmen. So etwa sah der frühere US-Aussenminister Henry Kissinger die gefährliche Lage der Ukraine an der Schnittstelle zwischen Ost und West voraus und schlug daher 2014 vor, die Ukraine nicht zum Zankapfel der Grossmächte werden zu lassen, sondern zu einer “Brücke zwischen beiden Seiten”. Doch auch diese Warnung wurde nicht ernst genommen. 

Wer nun, nach allem, immer noch behauptet, Russland hätte sich durch die NATO-Osterweiterung nicht bedroht und in die Enge getrieben gefühlt müssen, sollte sich mal vorstellen, Mexiko und Kanada würden mit Russland ein Militärbündnis abschliessen – was wäre wohl die Reaktion der USA? Nicht ausser Acht lassen sollte man auch, dass die NATO über ein 20 Mal höheres Militärbudget verfügt als Russland – wer soll da vor wem Angst haben? Dass die NATO-Osterweiterung tatsächlich von Russland als Bedrohung empfunden wird, sieht auch Roland Popp von der Militärakademie der ETH Zürich so: “Die NATO-Osterweiterung hat für einige Staaten mehr Sicherheit geschaffen – und für andere die Sicherheit zerstört.” Und selbst Papst Franziskus sagte in einem Interview mit dem Corriere della sera am 3. Mai 2022: “Vielleicht war es die NATO, die Putin dazu veranlasste, die Invasion der Ukraine zu entfesseln. Ich kann nicht sagen, ob seine Wut provoziert wurde, aber ich vermute, dass die Haltung des Westens sehr viel dazu beigetragen hat.” 

Selbst im Dezember 2021 war die Tür noch einen Spalt breit offen, um einen Krieg zu verhindern. Zu diesem Zeitpunkt nämlich schrieb Putin, wie Klaus Dohnanyi, ehemaliger Berater von Bundeskanzler Kohl, in einem Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk berichtete, einen Brief an die US-Regierung mit dem Ziel einer Beilegung des Ukrainekonflikts. Die Antwort der US-Regierung lautete, dass sie nicht im Sinn hätte, mit Putin über dieses Thema zu verhandeln. Dennoch sollen vorliegende Ausführungen den Krieg Russlands gegen die Ukraine auf keinen Fall rechtfertigen. Krieg ist nie, unter keinen Umständen und mit keinen Begründungen zu entschuldigen, zu verharmlosen oder zu rechtfertigen. Die – berechtigte – Verurteilung Russlands darf aber nicht dazu führen, die gesamte Vorgeschichte auszublenden und den Westen von jeglicher Mitverantwortung und Mitschuld freizusprechen. Hätte man auf all die warnenden Stimmen während so langer Zeit besser hingehört, hätte vielleicht dieser Krieg, der nicht erst am 24. Februar 2022 begonnen hat, verhindert werden können.