Wer arm ist, braucht nicht Hilfe, sondern Gerechtigkeit…

 

Der “Club” vom 27. September 2022 am Schweizer Fernsehen SRF1 debattierte über steigende Lebenskosten, Inflation, Armut und darüber, was man dagegen tun könnte. Einig war sich die Runde darin, dass Menschen, die sich in prekären finanziellen Verhältnissen befänden, geholfen werden müsste, so etwa durch eine Verbilligung der Krankenkassenprämien. Stossend, dass in der Runde keine einzige selber von Armut betroffene Person vertreten war. Offensichtlich ist die Gruppe der von Armut Betroffenen bereits so marginalisiert, dass man nicht einmal auf die Idee kommt, jemanden von ihnen zu einer öffentlichen Diskussion einzuladen, welche gerade sie doch am allermeisten betrifft.

Vielleicht hätte diese Person dann gesagt, dass sie sich nicht vor allem Hilfe und Mitleid wünschte, sondern Gerechtigkeit. Mitleid und Hilfe können nämlich, auch wenn sie noch so gut gemeint sind, niemals ein Ersatz sein für soziale Gerechtigkeit. Denn Armut und soziale Ausgrenzung sind nicht nur mit materieller Not verbunden, sondern auch mit Stigmatisierung, Ängsten und Schuldgefühlen. Viele von Armut Betroffene haben das Gefühl, an ihrer misslichen Lage selber Schuld zu sein – materielle Zuwendungen können diesen Zustand ein wenig erträglicher machen, ändern aber nichts an der Tatsache, dass sich die Betroffenen als Menschen “zweiter Klasse” fühlen. In einer Gesellschaft, in der immer noch das Märchen verbreitet wird, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied, und in der alle gegenseitig um den sozialen Aufstieg kämpfen, sehen sich die Zukurzgekommenen als Gescheiterte und Versagerinnen, die es nicht geschafft haben, den Traum von einem Leben in Wohlstand und sozialer Sicherheit zu verwirklichen. Hilfe und Almosen annehmen zu müssen, bedeutet für sie nicht nur eine Erleichterung des Alltags, sondern zugleich eine zusätzliche Stigmatisierung. Deshalb verzichten so viele arme Menschen auf den Bezug von Sozialhilfeleistungen, obwohl sie hierzu berechtigt wären.

Hilfe und Mitleid, so provokativ es klingen mag, bilden nichts anderes als die zynische Kehrseite der kapitalistischen Klassengesellschaft. Betrachten wir diese kapitalistische Klassengesellschaft doch als Ganzes: Der Reichtum der Reichen entsteht nicht so sehr durch eigene harte Arbeit, sondern durch eine permanente Umverteilung von unten nach oben, von denen, die für ihre Arbeit viel weniger verdienen, als diese eigentlich Wert wäre, zu denen, die sich, hauptsächlich in Form von Kapitalgewinnen, dank der Arbeit anderer bereichern. Grob gesagt, bildet jeder übertriebene Reichtum am einen Ort die Ursache für die Armut an einem anderen Ort – übertriebener Reichtum ist daher nichts anderes als Diebstahl an der Gesellschaft als ganzer. Wer daher ärmeren Menschen “Hilfe” gewährt, tut nichts anderes, als einen winzigen Teil des zuvor Geraubten wieder “grosszügig” zurückzugeben. Und da sollen die davon Betroffenen auch noch dafür dankbar sein?

Ins gleiche Kapitel gehört das Märchen von den Reichen, die weitaus mehr Steuern bezahlen als die Armen und somit angeblich einen wesentlichen Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit leisten. Diesem Märchen fehlt der Anfang, nämlich, dass die “grosszügig” geleisteten Steuergelder bloss einen winzigen Teil dessen bilden, was anderen zuvor geraubt worden ist,

Ob “Sozialhilfe”, “Winterhilfe” oder was für weitere “Hilfsorganisationen” auch immer: Sie alle sind bloss Feigenblätter der kapitalistischen Ausbeutungsgesellschaft, die sich damit einen menschlichen Anstrich gibt und die noch um vieles brutaler dastehen würde, wenn es alle diese “Hilfen” nicht gäbe. Das gilt nicht nur für die sozialen Verhältnisse jedes einzelnen kapitalistischen Landes. Es gilt zum Beispiel auch für das, was wir “Entwicklungshilfe” nennen: Da rühmt sich ja die Schweiz immer wieder ihrer Grosszügigkeit. Doch bei näherem Hinsehen stellen wir fest, dass die Schweiz im Handel mit “Entwicklungsländern” fast 50 Mal so hohe Profite erwirtschaftet, als sie diesen Ländern in Form von “Entwicklungshilfe” wieder zurückgibt. Und da soll eines dieser Länder dafür tatsächlich noch dankbar sein?

Erst wenn soziale Gerechtigkeit nicht nur in jedem einzelnen Land, sondern auch weltweit der Normalfall sein wird, dann wird die “grosszügige” Gabe, mit welcher der Reiche den Armen “beschenkt” und sich dabei noch als Vorbild für alle feiern lässt, ein Ende haben. Denn, wie schon der italienische Mönch Franz von Assisi sagte: “Wenn jeder Einzelne darauf verzichtet, Besitz anzuhäufen, dann werden alle genug haben.” Oder, mit den Worten des deutschen CDU-Politikers Heiner Geissler: “Es ist genug Geld vorhanden für alle, es haben nur die falschen Leute.”