Wenn sich das Geld am einen Ort so sündhaft auftürmt, dann muss es an anderen Orten umso schmerzlicher fehlen…

 

Die 40jährige Ivana G., so schreibt das “Tagblatt” am 23. November 2022, mache sich heftige Vorwürfe, dass sie ihrer Tochter für die kommende Wintersaison keinen neuen Skianzug kaufen könne. Und seit sie vor vier Monaten ihren Job bei Coop Pronto in Chur verloren habe, gäbe es zuhause kein Fleisch mehr, dafür viel Brot. Gemüse kaufe sie nur noch, wenn es Aktion sei. Da sie zeitweise beim RAV arbeiten könne, stünden ihr je nach Monat zwischen 1500 und 3000 Franken zur Verfügung. Mit Miete und Krankenkasse sei sie bereits bei Fixkosten von fast 2000 Franken, dann fehle aber noch das Geld fürs Essen, für den Strom, für Kleidung und Telefonrechnungen. Am schmerzlichsten sei, dass sie ihrer Tochter nicht einmal die dringend notwendige Zahnspange bezahlen könne.

Ivana G., ihre 15jährige Tochter und ihr 18jähriger Sohn gehören zu den etwa 25’000 von Armut Betroffenen Menschen im Kanton St. Gallen. Die Statistik zeigt, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich in den vergangenen zehn Jahren weiter geöffnet hat: Gehörten 2009 noch 31,2 Prozent des Gesamtvermögens des Kantons St. Gallen dem reichsten Prozent der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter, so waren es 2020 bereits 36,2 Prozent. Die obersten fünf Prozent besitzen heute 58,9 Prozent des Vermögens, das oberste Viertel 89,6 Prozent. Gleichzeitig hält das unterste Viertel der Bevölkerung im Erwerbsalter 0,1 Prozent des Gesamtvermögens. Bei den untersten 10 Prozent ist sogar überhaupt kein Vermögen mehr vorhanden. Diese Zahlen aus dem Kanton St. Gallen decken sich mit gesamtschweizerischen Vergleichszahlen: Zurzeit sind schweizweit zwischen 700’000 und 800’000 Menschen von Armut betroffen und führen ihren täglichen Überlebenskampf, kratzen Monat für Monat ihre letzten paar Franken zusammen, müssen sich verschulden so wie Ivana G. und ihre beiden Kinder – und machen sich am Ende sogar noch Vorwürfe, als seien sie selber an alledem Schuld…

Und dann lese ich, ein paar Seiten weiter, dass die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer über ein Gesamtvermögen von 821 Milliarden Franken verfügen, viermal so viel wie vor 30 Jahren! 821 Milliarden Franken, eine unvorstellbare Summe, deren Ausmass man nur ermessen kann, wenn man entsprechende Vergleiche zieht: 821 Milliarden, das entspricht ungefähr der jährlichen Wirtschaftsleistung der gesamten Schweiz. Oder dem jährlichen Militärhaushalt der USA. Würde man dieses Geld an alle Menschen weltweit verteilen, so gäbe dies für jede Person über 100 Franken!

Und doch gibt es immer noch die ewiggestrigen und unverbesserlichen Verfechter des kapitalistischen Gesellschaftssystems, die uns weismachen wollen, das eine – der sagenhafte Reichtum – und das andere – die bittere Armut – hätten nichts miteinander zu tun. Dabei ist es doch offensichtlich: Noch nie hat man Geld auf Bäumen wachsen gesehen und noch nie wurde es in Muscheln tief auf dem Meeresgrund gefunden. Wenn es sich am einen Ort so sündhaft auftürmt, dann muss es an anderen Orten umso schmerzlicher fehlen.

In der Tat: Es ist das gleiche Geld, das sich in den Taschen der Reichen ansammelt, welches in den Taschen der Armen fehlt. Ob in Form eklatanter Lohnunterschiede, in Form von Erbschaften, in Form von Mieterträgen aus Immobilienbesitz, ob in Form von Gewinnen aus Finanzgeschäften, Kapitalerträgen oder Börsenspekulationen – stets fliesst das Geld von unten nach oben, von denen, die viel arbeiten und wenig besitzen, zu denen, die viel weniger arbeiten und umso mehr besitzen. Die berühmte Schere, die sich immer weiter öffnet, weltweit und in jedem einzelnen kapitalistischen Land. “Wäre ich nicht arm”, sagt der arme Mann in einer Parabel Bertolt Brechts, “dann wärst du nicht reich.” Noch deutlicher sagte es der französische Schriftsteller Honoré de Balzac: “Hinter jedem grossen Vermögen steht ein grosses Verbrechen.” Ja, Kapitalismus ist nichts anderes als ein grenzenloser, institutionalisierter, legalisierter, unsichtbar gemachter Raubzug der Reichen gegen die Armen.

Deshalb führt uns auch das ständige Gerede, man müsse den Armen “helfen” oder die Armut “bekämpfen”, bloss auf eine falsche Fährte. Die Armen brauchen keine Hilfe, sondern schlicht und einfach nur Gerechtigkeit. Und niemand muss die Armut bekämpfen, denn bekämpfen muss man nur den Reichtum. Wenn man den Reichtum bekämpft, dann verschwindet die Armut ganz von selber. Und dann, ja dann, wird Ivana G. nicht mehr auf sich selber wütend sein, dass sie ihrer Tochter keinen neuen Skianzug kaufen kann. Sie wird wütend sein auf all jene, die sie so lange belogen haben, bloss um ihre eigenen Privilegien, ihre Macht und all ihr geraubtes Gut nicht zu verlieren.