Wenn man staatliche Unternehmen privatisieren kann, weshalb sollte dann nicht auch das Umgekehrte möglich sein?

 

“England durchlebt in diesem Sommer eine Dürreperiode wie seit langem nicht mehr”, berichtet der “Tagesanzeiger” vom 10. August 2022. Und weiter: “Gleichzeitig aber stehen manche Londoner knietief im Wasser. Im Stadtteil Islington ist diese Woche eine Hauptleitung geborsten und hat, zum Entsetzen der Anwohner, stundenlang ganze Strassenzüge überschwemmt. Fünfzig Häuser wurden schwer beschädigt, Pubs und Geschäfte mussten geschlossen werden. Vier Personen mussten vor der Flut gerettet werden. Und bei Tausenden von Haushalten kam anschliessend erst einmal kein Tropfen mehr aus dem Wasserhahn.” Unlängst berichtete die “Times”, dass der Wasserkonzern “Thames Water” durch Lecks und Wasserrohrbrüche ein ganzes Viertel seines Wasservolumens – über 600 Millionen Liter pro Tag – verliere. Und trotz der zunehmenden Dürre sei in Südengland seit 1976 aus Kostengründen kein einziges neues Wasserreservoir gebaut worden. Dies alles ist die Folge der Privatisierung der Wasserwerke durch Margaret Thatchers Regierung in den 80er Jahren. Seither steht auch für dringend notwendige Bauten und Infrastrukturen immer weniger Geld zur Verfügung, während Aktionärinnen und Aktionäre Jahr für Jahr mit enormen Beiträgen aus den Wassergebühren bedient und ihre Direktoren mit Millionengehältern bezahlt werden.

Zweites Beispiel: die Privatisierung der britischen Eisenbahngesellschaft im Jahre 1994, unter Premierminister John Major. Damit wurde das Gleis- und Signalnetz vom Betrieb der Bahn getrennt. Für die Infrastruktur der Bahn – 52’000 Kilometer Schienen und 2500 Bahnhöfe – war nun neu das Privatunternehmen Railtrack zuständig, für den Personenverkehr wurden 25 Streckenlizenzen an private Investoren vergeben. Das gesamte Rollmaterial der Bahn wurde an drei Leasing-Gesellschaften verkauft. Während Railtrack in den ersten Jahren noch stattliche Gewinne machte und der Aktienkurs in die Höhe schoss, kam es zu mehreren schweren Zugunglücken – nicht zuletzt wegen der maroden, kaputtgesparten Infrastruktur. Das Pendel schlug in der Folge um: Im Mai 2001 wies Railtrack erstmals einen Verlust von 534 Millionen Pfund aus, fünf Monate später wurde der Konkursantrag angemeldet und seither befindet sich Railtrack de facto wieder in staatlicher Hand.

Drittes Beispiel: Die Zerstückelung des schweizerischen staatlichen Transport- und Telekommunikationsunternehmen PTT im Jahre 1998. Stand zuvor die Erbringung eines qualitativ möglichst hochstehenden Service public im Vordergrund, so haben die einzelnen Sparten, in die das Unternehmen aufgeteilt wurde, vor allem eine grösstmögliche Gewinnmaximierung im Fokus. Wurden früher die Gewinne aus der Telekommunikation in Form von “Quersubventionierung” der weniger rentablen Brief- und Paketpost zugewiesen, so wandert dieses Geld heute in die Taschen der Manager und der Aktionärinnen und Aktionäre. Leidtragende sind die Kundinnen und Kunden, die immer höhere Preise zu bezahlen haben, und die Angestellten, die einem laufend höheren Leistungsdruck ausgesetzt sind.

Viertes Beispiel: In der Schweiz hat man die Qual der Wahl zwischen nicht weniger als 58 verschiedenen Krankenkassen, von denen jede ihren eigenen Verwaltungsapparat hat, ihre eigenen Kader und Manager, ihre eigenen Gebäude, ihre eigene Infrastruktur und ihr eigenes Marketing, um sich im gegenseitigen Wettbewerb mit allen übrigen Kassen eine möglichst hohe und damit gewinnbringende Zahl von Kundinnen und Kunden zu sichern. Kein Wunder, steigen die Prämien von Jahr zu Jahr unaufhörlich in die Höhe – längst ist erwiesen, dass eine staatliche Einheitskrankenkasse analog der schweizerischen Unfallversicherungsanstalt SUVA viel kostengünstiger arbeiten würde, doch immer und immer wieder ist es den privaten Anbietern durch Lobbying und gezielte Werbeanstrengungen bisher gelungen, ihre Pfründe zu sichern und ein staatliches, einheitliches Krankenkassenmodell zu verhindern.

Die britischen Wasserwerke. Die britische Eisenbahn. Die schweizerische PTT. Die schweizerischen Krankenkassen. Braucht es noch mehr Beispiele, um deutlich zu machen, dass die Privatisierung öffentlicher Aufgaben nur vermeintlich die beste Lösung ist, und wenn, dann eigentlich nur für jene, die daraus einen persönlichen Nutzen ziehen, während die ganz “gewöhnlichen” Bürgerinnen und Bürger, die Kundinnen und Kunden das Nachsehen haben. Doch wo sind die Grenzen? Wo und unter welchen Umständen ist die Privatisierung die bessere Lösung, wo und unter welchen Umständen die staatliche? Provokativ könnte man die These in den Raum stellen, dass eigentlich stets die staatliche Lösung die bessere ist, da sie eben darauf ausgerichtet ist, der allgemeinen Wohlfahrt zu dienen und nicht dem Gewinnstreben Einzelner. Dass der öffentliche Verkehr dem Wohle der Menschen dienen soll und ein Lebensmittelkonzern in erster Linie dem Wohl seiner Aktionärinnen und Aktionäre, ist eine seltsame und willkürliche Spaltung von zwei Dingen, die eigentlich zusammengehören, denn im Grunde hätte ja auch der Lebensmittelkonzern die vorrangige Aufgabe, dem Wohl der Menschen zu dienen. Es gibt eigentlich keinen einzigen plausiblen Grund, der dagegen spricht, sämtliche Unternehmen zu verstaatlichen. Der französische Automobilhersteller Renault, eines der erfolgreichsten und innovativsten europäischen Unternehmen dieses Sektors, war 51 Jahre lang, nämlich bis zu seiner Privatisierung im Jahre 1996, ein Staatsunternehmen. Und wenn es bei einem Automobilkonzern funktionierte, weshalb sollte es da nicht auch bei einem Lebensmittelkonzern, einer Bank oder einem Bauunternehmen funktionieren?

Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass bei einem privaten Unternehmen die Gewinnzahlen und die Geldgier der Aktionärinnen und Aktionäre den Ton angeben, während es beim staatlichen Unternehmen die allgemeine Wohlfahrt ist, an welcher sich der Betrieb hauptsächlich orientiert. Staatliche Vorgaben wie Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzsicherung, Löhne und Umweltauflagen können eins zu eins umgesetzt werden und müssen nicht durch meist viel zu zahnlose Gesetze und Vorschriften Schritt für Schritt mühsam erkämpft werden. Die Privatwirtschaft mag in Zeiten des Aufbruchs und einer noch weitgehend intakten Umwelt ein sinnvolles Modell gewesen sein. Jetzt, in Zeiten zunehmender sozialer Spaltung und der drohenden Klimakatastrophe, wird sie je länger je mehr zum historischen Auslaufmodell. Man muss ja nicht gleich die ganze Welt auf den Kopf stellen. Es genügt schon, private Unternehmen nach und nach in staatliche umzubilden. Denn wenn Staatsbetriebe in Privatbetriebe umgebaut werden können, dann ist nicht einzusehen, weshalb nicht auch das Umgekehrte möglich sein sollte…