Wenn die Demokratie zum Büchsenschiessen verkommt und was wir von Afrika lernen können…

Weisst du, sagte mir ein Freund, der seit zwei Jahren Mitglied unseres Gemeinderates ist, manchmal komme ich mir vor wie eine dieser Büchsen in einem Jahrmarktsstand, auf die pausenlos jemand mit Bällen schiesst, um in möglichst kurzer Zeit möglichst viele von uns abzuknallen und dann als Belohnung ein möglichst grosses Stofftier zu bekommen. Und ja, denke ich, das kann nicht schön sein. Kein Wunder, gibt es immer weniger Leute, die sich für öffentliche Ämter zur Verfügung stellen. Und oft sind es dann ausgerechnet solche mit einer besonders dicken Haut, die sich durch Angriffe von aussen nicht allzu sehr aus dem Konzept bringen lassen, oder solche, die dann mit ebenso grobem Geschütz oder sogar noch gröberem zurückschiessen. Aber ob das dann besser ist?

Aber es sind nicht nur die öffentlichen Ämter. Manchmal kommt es mir vor wie eine allgemeine Treibjagd, in der Politik, in den Medien, im Internet, in öffentlichen Diskussionen, selbst bei persönlichen Begegnungen auf der Strasse oder bei Familienfesten. Immer ist sogleich jemand zur Stelle, der dies oder das gehört oder gelesen, sich über dies oder das schon ganz gehörig ereifert oder genervt hat und jede Gelegenheit beim Schopf packt, nun seinem ganzen Unmut möglichst freien Lauf zu lassen, als wären wir in unserem Innersten immer noch eine Art Jäger, die stets sehnlichst auf den Tag warten, an dem der Beginn der Jagd offiziell verkündet wird, um dann sogleich mit der Flinte in der Hand loszurennen und in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Tiere zur Strecke zu bringen.

Oft ist es nur ein kleines “falsches” Wort am “falschen” Ort zur “falschen” Zeit, und schon geht die Empörungswelle los, Tausende von Kommentaren im Internet, in den sozialen Medien, in Bruchteilen von Sekunden, Schlag auf Schlag, Ball um Ball und Büchse um Büchse, und wer da noch auf die verrückte Idee käme, alles ein bisschen entschleunigen und dem Nachdenken über ein bisschen tiefer gehende Hintergründe oder Zusammenhänge mehr Zeit und Raum geben zu wollen, kommt sich schon fast vor wie ein Relikt aus der Zeit der Dinosaurier. Als Held seiner Zeit gilt der, welcher möglichst rasch eine möglichst klare, keinen Widerspruch duldende Position einnimmt, diese möglichst rasch möglichst weit verbreitet und dem es gelingt, andere, dieser möglicherweise widersprechende Positionen möglichst erfolgreich zur Seite zu schieben.

Das tut der Demokratie nicht gut. Man könnte es vielleicht sogar als gewaltigen gesellschaftlichen Rückschritt sehen. Denn es gäbe schon noch ein paar bedenkenswerte Gepflogenheiten aus früheren Zeiten, die man sich vielleicht mal gelegentlich in Erinnerung rufen müsste, auch wenn sie fast aus der Zeit der Dinosaurier stammen.

Zum Beispiel die Dreistufigkeit einer guten Meinungsbildung. Die erste Stufe ist das Ereignis als solches, das Betroffenheit, Zustimmung oder Widerspruch auslöst. Als zweite Stufe müsste jetzt eigentlich zunächst die eigene, innere Auseinandersetzung kommen, sodann jene im näheren persönlichen Umfeld und früher oder später jene im öffentlichen Raum. So kann die eigene Meinung reifen, die impulsive Reaktion des ersten Moments wird sich dabei möglicherweise relativieren, entschärfen, versachlichen, erweitern oder gar auf den Kopf stellen. Zuletzt die dritte Stufe einer reif gewordenen, durchdachten eigenen Meinung zum betreffenden Thema. Was in den meisten Meinungsbildungsprozessen unserer schnelllebigen Zeit fast gänzlich abhanden gekommen ist, ist die zweite Stufe, meist wird unvermittelt von der ersten zur dritten Stufe gesprungen, schneller geschrieben als gedacht und dabei unbewusst das neue Ereignis, die neue Botschaft in das eigene, bereits bestehende Denkgebäude eingefügt, ohne es näher zu hinterfragen und in seiner möglichen Vieldeutigkeit zu analysieren. Dabei wäre doch die zweite Stufe, die Stufe der Reflexion und der inneren und äusseren Auseinandersetzung, mit Abstand die interessanteste, spannendste und fruchtbarste. In dieser Phase erfahre ich, was sich andere Menschen zum gleichen Thema für Gedanken gemacht haben, ich kann von ihnen etwas lernen, meine Kenntnisse erweitern und meine eigene Meinung kritisch überprüfen. Für diese Phase eignet sich das Internet nicht. Es braucht öffentliche Debattierclubs, Quartiertreffpunkte, Stammtische, wo sich Menschen unterschiedlicher Meinungen und Denkrichtungen treffen und sich miteinander austauschen können – ganz im Gegensatz zu all den “Blasen” in der digitalen Welt, wohin sich Menschen auf der Suche nach möglichst vielen Gleichgesinnten zurückziehen und sich die eigenen Zweifel und Unsicherheiten leicht verdrängen lassen, indem man Teil einer Gemeinschaft wird, in der so wohltuend harmonisch alle fast genau gleich denken, und zwar natürlich das “Richtige”, denn selber ist man ja immer gescheiter als alle anderen, selber ist man ja immer etwas “Besseres” als der Rest der Welt.

Auch die Grundhaltung, dass der andere möglicherweise Recht haben und man selber möglicherweise auch falsch liegen könnte, wäre eine wesentliche Voraussetzung für eine fruchtbare Meinungsbildung. “Intellektuell sein”, so Stefan Zweig, “heisst gerecht sein, heisst Verständnis aufbringen für sein Gegenüber, für die Oppositionellen, für die Gegner.” Paul Watzlawick, Philosoph und Kommunikationswissenschaftler, sagt: “Der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit, ist die gefährlichste Selbsttäuschung.” Und Kurt Tucholsky formulierte es so: “Streitende sollten wissen, dass nie einer ganz Recht hat und der andere ganz Unrecht.” Das wussten die Menschen in Afrika schon vor Jahrhunderten. Was bei uns Gemeinderatssitzungen sind, waren in den afrikanischen Dörfern die “Palaver”: Im Rat der Weisen wurde über ein Thema so lange diskutiert, bis man eine gemeinsame Meinung gefunden hatte, egal, ob es ein paar Stunden oder ein paar Tage dauerte. Und zwar diskutierte man nicht so lange, bis man Zweifler oder Andersdenkende “überredet” und in eine Minderheit versetzt hatte, sondern, ganz im Gegenteil, so lange, bis die Ideen dieser Zweifler und Andersdenkender in die gemeinsame Beschlussfassung in ausreichendem Mass Eingang gefunden hatten, so dass sich diese mit dem Resultat einverstanden erklären konnten – eine Form von Demokratie, die unserer heutigen Zeit damals schon um Jahrhunderte voraus war, ist doch in der heutigen “demokratischen” Schweiz in jedem Entscheid über eine Volksinitiative, auch wenn sie nur mit 50,4 Prozent Neinstimmen abgelehnt wird, kein Quentchen von dem enthalten, was sich diese anderen 49,6 Prozent gewünscht hätten. So wird gesellschaftlicher Fortschritt durch die “Siegermentalität” der “Erfolgreichen” nicht ermöglicht, sondern immer und immer wieder aufs Neue abgewürgt. Kein Wunder, wird Politik auf diese Weise weitgehend als Stillstand und permanente Zementierung des Bestehenden wahrgenommen und wenden sich immer mehr Menschen enttäuscht davon ab.

Ein anderes wichtiges Instrument, das dazu dienen könnte, gesellschaftlichen Fortschritt zu beflügeln, ist die Theorie des von 1770 bis 1831 lebenden deutschen Philosophen Georg Friedrich Hegel, wonach sich zu jeder Idee bzw. These eine Gegenidee bzw. Antithese formulieren lässt, aus deren Verschmelzung eine neue Idee bzw. Synthese entstehen kann. Eine Methode, von der die heutigen Menschen in unseren modernen “Demokratien” offensichtlich kaum mehr etwas zu wissen scheinen, obwohl sie ganz einfach und zudem äusserst erfolgreich sein könnte. Sie beruht im Wesentlichen darauf, dass sich bestehende Verhältnisse am wirkungsvollsten dadurch verändern lassen, indem man sich zunächst mal ihr Gegenteil vorstellt. Konkret: In einer Welt voller Armeen und von Jahr zu Jahr steigender Rüstungsausgaben stellt man sich vor, dass es keine einzige Armee mehr gäbe, und weiter, was man mit dem damit eingesparten Geld alles finanzieren könnte. Als Gegenidee zu einem Gesundheitssystem mit 55 privaten Krankenkassen, einem Dschungel an Hin- und Herfinanzierungen, einem zerstörerischen Renditezwang und der für viele Menschen schon längst nicht mehr tragbaren Belastung, für die Gesundheitskosten weitgehend privat aufkommen zu müssen, stellt man sich ein staatliches, ausschliesslich über Steuern finanziertes Gesundheitssystem vor. Als Gegenidee zu einem Lohnsystem, wo in einzelnen Firmen wie etwa dem Pharmakonzern Roche die höchsten Löhne die geringsten um das 307fache übersteigen, stellt man sich einen Einheitslohn mit dem gleichen Stundenansatz für alle Berufe, von der Putzfrau bis zum Topmanager. Als Gegenidee zu einem vom privaten Automobil dominierten Verkehrssystem, das immer mehr an seine Grenzen gelangt, stellt man sich ein dermassen weit ausgebautes und von der Allgemeinheit getragenes öffentlichen Verkehrssystem vor, dass das private Automobil früher oder später überflüssig geworden sein wird. Als Gegenidee zu einem Schulsystem, das sich an Jahrgangsklassen und künstlich geschaffenen, ausschliesslich von Erwachsenen geschriebenen Lehrplänen orientiert, stellt man sich eine offene, unstrukturierte Lernwelt vor, in der sich Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu jeder Zeit ihres Lebens und stets aufgrund ihrer jeweiligen echten Lern- und Lebensbedürfnisse frei und selbstbestimmt bewegen können. Damit soll nicht postuliert werden, dass so utopische Ideen von heute auf morgen verwirklicht und alles Bisherige innert ganz kurzer Zeit über Bord geworfen werden kann. Aber nur wenn das Gegenteil des Bestehenden zunächst einmal frei und mutig gedacht wird und man es sich konkret vorzustellen versucht, wenn also zu den bestehenden “Thesen” ihr Gegenteil in Form von “Antithesen” in den Raum gestellt wird, können sich daraus neue, kreative Lösungen als “Synthesen” verwirklichen lassen, die man sich, obwohl sie meistens ganz logisch und simpel wären, zuvor noch gar nicht vorzustellen vermochte. Dass Politik ohne Phantasie, Kreativität und Visionen reine Zeitverschwendung ist, müssten wir ja eigentlich längst schon erkannt haben, wenn man bedenkt, wie seit Jahren alle grossen Herausforderungen vom Gesundheitssystem über das Verkehrssystem, das Bildungssystem, die Altersvorsorge, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, den Fachkräftemangel, die Missstände bei der IV, die Strukturprobleme in der Landwirtschaft, die steigenden Lebenskosten, den fehlenden Wohnraum bis hin zum Verhältnis zur EU, der Frage der Neutralität, der Rolle der Schweiz in der Welt und nicht zuletzt der Klimakrise wie heisse Kartoffeln ungelöst vor sich hingeschoben werden und dabei die Probleme immer nur noch grösser und grösser werden. Dazu kommt jetzt zu allem Überdruss noch die sogenannte Künstliche Intelligenz, die natürlich ausschliesslich im bereits Bekannten, also im Bereich der Thesen, verharrt und diesen sogar noch zusätzlich einen technologischen “Heiligenschein” verleiht. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass aus dieser Ecke die wirklich kreativen und das herkömmliche Denken sprengenden Antithesen kommen, die wir so dringend brauchen. Hierfür bedarf es schon echter Intelligenz.

Man müsste vielleicht die Demokratie neu erfinden, um das alles in den Griff zu bekommen. Oder, ganz einfach, wieder zu ihren Wurzeln zurückkehren. Das Büchsenschiessen jedenfalls bringt uns gewiss nicht weiter. Es braucht wieder menschliche Begegnungen, stundenlange Palaver, mutige Ideen und Visionen, die Bereitschaft einander zuzuhören und gemeinsam Lösungen zu suchen, nicht gegeneinander, denn, wie schon Friedrich Dürrenmatt sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.” Niemand besitzt die Wahrheit als Ganzes, jeder und jede besitzt nur einen Teil davon, je ein einzelnes Puzzlestück, und nur wenn wir sämtliche Stücke einfügen, kann das ganze Bild entstehen.

Und das kann nur geschehen, wenn wir uns dafür die nötige Zeit und Ruhe nehmen. Aus Zeitdruck und permanenter Hektik, aus Stress und ständiger Überforderung kann nichts Gutes entstehen. Warum nehmen wir uns nicht zum Beispiel den Freitag als regelmässigen Wochentag der “Besinnung”, der politischen Arbeit und der menschlichen Begegnungen? Einen Tag pro Woche nicht am Computer sitzen, uns in Gespräche vertiefen, immer Zeit haben, nie sagen: “Tut mir leid, ich muss gleich weiter, ich habe noch einen Termin, ich muss noch dies und ich muss noch das…” Bereits Max Frisch, und das ist nun schon eine Weile her, sagte: “Einst hatten wir Zeit. Ich weiss nicht, wer sie uns genommen hat. Ich weiss nicht, wessen Sklaven wir sind. Wir sind ja schon fast so wie die Ameisen.” Was er wohl sagen würde, wenn er heute noch leben würde?

Wir brauchen nicht fremde Diktatoren, um uns die Demokratie zerstören zu lassen. Das können wir, wenn wir so weitermachen, ganz gut auch selber schaffen. Ebenso aber liegt es auch in unserer Hand, wieder zu den Grundwerten echter Demokratie zurückzukehren. Demokratie ist zwar, wie Winston Churchill einst sagte, die schlechteste aller Regierungsformen, aber wenigstens doch immer noch besser als alle anderen…