Weihnachten 2023: Als wäre es das letzte Mal…

Als wäre es das letzte Mal. Als ginge es darum, noch einmal alles bis auf die Spitze zu treiben, auch noch das Letzte aus allem herauszupressen, alles Bisherige zu übertrumpfen. Nacht für Nacht mussten in fernen Ländern Arbeiterinnen bis zur Erschöpfung Überstunden leisten und wurden, wenn sie sich kaum mehr aufrecht halten konnten, von ihren Aufsehern brutal wachgeprügelt, Textilarbeiterinnen in Bangladesch, Spielzeugfabrikantinnen in China, Chipherstellerinnen in Taiwan, Männer und Frauen auf endlosen Kakao- und Kaffeeplantagen in Brasilien, Vietnam und Äthiopien, Kinder im Kongo, in Tansania und Niger, die mit aufgeschürften Armen und Beinen aus immer grösserer Tiefe und unter immer gefährlicheren Bedingungen so kostbare Stoffe wie Kupfer, Kobalt und Lithium aus dem Boden schürfen, ohne die kein einziges der Handys, der Laptops und der Computer, die schon bald neben Abertausenden Barbiepuppen, Pralinenschachteln, Videospielen und Schmuckstücken unter dem Weihnachtsbaum liegen werden, auch nur einen einzigen Tag lang funktionieren würde. Auch in der Metzgerei auf der gegenüberliegenden Strassenseite brennt schon seit zwei Uhr nachts das Licht, am nächsten Morgen fahren die Autos im Sekundentakt vor, doch im Glitzerkugelflimmer am Eingang und auf der Theke ist das Schreien der in der vorangegangenen Nacht geschlachteten Tiere schon längst verstummt. Paketboten hetzen seit Tagen mit immer grösseren und schwereren Schachteln durch die Strassen, bis ihnen fast der Rücken zerbricht. Laufend werden am Radio Verkehrsunfälle vermeldet, Buchungen für Flugreisen und Kreuzfahrten laufen heisser denn je, auch die Reservationslisten von Restaurants und Hotels sind randvoll, Köche, die morgens um sieben mit der Arbeit angefangen haben, stehen um elf Uhr nachts immer noch am Kochherd, Zimmermädchen und Serviceangestellte laufen sich die Füsse wund, Verkäuferinnen umwickeln mit zunehmend schmerzenden Händen am Laufmeter Pakete, in denen all jene Dinge stecken, die man in letzter Sekunde verzweifelt noch gefunden hat, obwohl doch niemand mehr weiss, was er überhaupt noch schenken soll, wo doch eh alle schon alles haben. Ausser jene, die von alledem ausgeschlossen sind und selbst im reichsten Land der Welt nicht einmal genug Geld haben, um ein Weihnachtsbäumchen zu kaufen, geschweige denn das so lange gewünschte Dreirad für das eigene Kind oder ein so richtig prächtiges, reichhaltiges Weihnachtsessen.

Längst bevor die christliche Lehre das mittlere und nördlichere Europa erreichte, wurde an Weihnachten jenes Datum gefeiert, an dem die Tage nach langer Dunkelheit endlich wieder länger zu werden beginnen, herbstliche und winterliche Erstarrung sich nach und nach wieder in die Vorfreude auf einen neuen Frühling zu verwandeln beginnt und der immergrüne Tannenbaum als Symbol für die unbesiegbare Kraft der Natur die Herzen der Menschen erfreut. Dann kam das Christentum und der Weihnachtsbaum wurde zum Christbaum, die Geschichte von Jesus zur neuen Erzählung von Lebensfreude, Nächstenliebe und von der Botschaft, dass es nichts Wichtigeres im Leben geben soll, als dass jene, denen es gut geht, sich um die anderen, denen es weniger gut geht, kümmern sollen.

Heute ist Weihnachten schon längst nicht mehr das Fest der Wintersonnenwende und schon gar nicht das Fest der Nächstenliebe. Heute ist der 24. Dezember der höchste Feiertag im kapitalistischen Kalenderjahr unendlicher Profitmaximierung, unendlicher Anhäufung von Reichtum in den Händen einer privilegierten Minderheit auf Kosten einer Mehrheit Beraubter und in Armut Versunkener. Zwischen dem Anfang und dem Ende dieses Tages werden, wie auch an jedem anderen Tag des Jahres, weltweit rund 10’000 Kinder unter fünf Jahren verhungert sein, nicht weil insgesamt zu wenig Nahrungsmittel zur Verfügung stehen, sondern nur deshalb, weil im globalen kapitalistischen Wirtschafts- und Ausbeutungssystem die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie die Menschen tatsächlich brauchen, sondern dorthin, wo am meisten Geld vorhanden ist, damit alle diese Güter möglichst gewinnbringend verkauft werden können. Weihnachten ist der Tag, an dem mehr als an allen anderen Tagen des Jahres die Reichen ihren Reichtum zur Schau stellen und sich an all dem freuen, was sie anderen in derart überbordendem Ausmass weggenommen haben, dass ihre Tische unter der Last viel zu vieler Köstlichkeiten fast zerbrechen, am Ende des Tages tonnenweise zu viel Gekauftes liegen bleibt, fortgeschmissen wird und sich dann im Januar als neues Geschäftsfeld all jene extravaganten Diätkuren eröffnen, um das über die Feiertage angefressene Fett wieder loszuwerden.

Ich glaube fast, an diesem Tag haben sie, nachdem sie es tausendmal vergeblich versucht hatten, das Christkind endgültig und für immer vergraben.

Es sei denn, wir kämen rechtzeitig zur Besinnung. Würden erkennen, dass Weihnachten – in der ursprünglichen Bedeutung vom Eingebundensein des Menschen in den Kreislauf der Natur und von der Nächstenliebe als höchstem aller menschlichen und gesellschaftlichen Werte – heute aktueller wäre denn je. Immer mehr Menschen fordern die Aussetzung oder die Abschaffung des Weihnachtsfestes. Würde nicht das Gegenteil viel grösseren Sinn machen? Wäre nicht die Veränderung und das Umdrehen des Bisherigen in sein Gegenteil, das, was mit Jesus vor über 2000 Jahren so hoffnungsvoll in die Welt kam und dem im Laufe der Geschichte immer wieder so wunderbare Menschen wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela und unzählige andere zu folgen trachteten, genau jene Hoffnung, die wir heute so dringend brauchen? „Es werden”, so Papst Johannes Paul II. am Weltfriedenstag im Januar 2000, “in dem Masse Frieden und Gerechtigkeit herrschen, in dem es der ganzen Menschheit gelingt, ihre ursprüngliche Berufung wiederzuentdecken, eine einzige Familie zu sein.“