Erste Frachter aus Odessa ausgelaufen: Hühnerfutter für die Reichen statt Brot für die Armen

 

“Als der Frachter Razoni letzte Woche im Hafen von Odessa mit dem Ziel Libanon ablegte”, schreibt das “Tagblatt” vom 10. August 2022, “feierten Politiker aus aller Welt die Abfahrt als Leuchtfeuer der Hoffnung im Kampf gegen den Hunger. Doch im Libanon, der dringend Getreide braucht, ist die Razoni nicht angekommen. Stattdessen wird sie in der Türkei erwartet. Der Mais an Bord ist nicht einmal für Brot bestimmt, sondern als Hühnerfutter.” Tatsächlich fährt keines der elf Schiffe, die mittlerweile die ukrainischen Gewässer verlassen konnten, Häfen in armen Ländern an. Die Zielhäfen für die elf Transporte mit mehr als 200’000 Tonnen Mais, Sojabohnen, Sonnenblumenmehl und Sonnenblumenöl sind in der Türkei, Grossbritannien, Irland, Italien, Südkorea und China.

Hunger in Somalia, Äthiopien, Afghanistan, Jemen oder Kenia. Getreide aus der Ukraine als Tierfutter für die Türkei, Grossbritannien, Irland, Italien, Südkorea und China. Zynischer und menschenverachtender geht es nicht mehr. Und doch ist das alles nur die ganz “normale” Art und Weise, wie Produktion, Handel und ganz allgemein Wirtschaft im Kapitalismus funktioniert: Die Güter fliessen nicht dorthin, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo genug Geld vorhanden ist, um sie kaufen zu können. Und so werden weltweit rund 40 Prozent aller Agrarflächen für die Produktion jener Unmengen von Fleisch verschwendet, das auf den Tellern des reichen Nordens landet, während gleichzeitig über 800 Millionen Menschen hungern und jeden Tag weltweit 15’000 Kinder sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Nicht umsonst sagte Papst Franziskus: “Kapitalismus tötet.” Haben das all die glühenden Verfechter der sogenannten “freien” Marktwirtschaft, die ja bloss ein anderes Wort für Kapitalismus ist, immer noch nicht begriffen? Wie viele Tote braucht es noch, bis ihnen die Augen aufgehen?

Doch übermässige Fleischproduktion für die Reichen und Hunger für die Armen sind nur die Spitzen des Eisbergs. Dass die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo die Menschen genug Geld haben, um sie kaufen zu können, lässt sich an jedem Produkt auf dem globalen Warenmarkt nachverfolgen. Verfügen wohlhabende Europäer nicht selten nebst einem oder gar zwei Autos pro Familie zusätzlich über mehrere Stadträder, ein Tourenräder und gar noch E-Bikes, müssen zwölfjährige Mädchen in Afrika 15 oder 20 Kilometer weit zu Fuss gehen, um Trinkwasser oder Brennholz für ihre Familie zu beschaffen – und selbst wenn sie ein Fahrrad hätten, sind die Strassen in einem so miserablen Zustand, dass sie es gar nicht benützen könnten. Unter dem Weihnachtsbaum wohlhabender Menschen des Nordens liegen Berge von Kinderspielzeug, angefertigt von chinesischen Fabrikarbeiterinnen, deren Kinder als einziges Spielzeug gerade mal eine Blechdose besitzen, die sie an einer Schnur hinter sich herziehen. Und die Modehäuser des reichen Nordens überquellen derart von viel zu vielen Kleidern, dass diese oft schon im Müll landen, bevor sie auch nur ein einziges Mal getragen wurden – während Millionen von Menschen im ärmeren Süden schon dankbar sein müssen, wenn sie über zwei Paar Hosen, Röcke oder Schuhe verfügen.

Tatsächlich ist aber alles noch viel schlimmer. Denn der Reichtum am einen Ort ist mit der Armut am anderen aufs Engste verknüpft. Nur weil so viele Menschen im Süden Hunger leiden, stehen genügend grosse Agrarflächen zur Verfügung, um die Fleischgier des Nordens und der weltweiten Oberschichten zu befriedigen. Nur weil die Spielzeugfabrikantinnen in China so wenig verdienen, sind die Spielsachen in den Geschäften des Nordens so billig, dass sie von den genug Verdienenden im Norden in solchem Überfluss gekauft werden können. Nur weil afrikanische Minenarbeiter zu einem Hungerlohn Rohstoffe und Metalle in genügender Menge aus dem Boden schürfen, können sich so viele Menschen in den wohlhabenderen Ländern ohne Problem ein Elektromobil oder ein E-Bike leisten, ohne auf irgendetwas anderes verzichten zu müssen.

Als die Frachter infolge der Verminung ukrainischer Häfen nicht auslaufen konnten, reagierten die westlichen Regierungen mit hellster Empörung: Russland sei Schuld, wenn die Menschen nicht mit dem Getreide aus der Ukraine versorgt werden könnten und daher verhungern müssten. Jetzt, wo die Schiffe auslaufen und das Getreide abtransportieren können, wird dieses nicht für die notleidende Bevölkerung in den von Hunger am meisten betroffenen Ländern verwendet, sondern für die Produktion von Fleisch für all jene, die sowieso schon genug zu essen haben und sich diesen Luxus leisten können. Doch angesichts dieses unermesslichen Skandals hüllen sich die gleichen westlichen Regierungen, die eben noch so laut geschrien haben, in Schweigen. Offensichtlich ist es einfacher, den bösen “Feind” zu beschuldigen und zu diffamieren, als an den Grundfesten der eigenen Ideologie der Profitmaximierung um jeden Preis auch nur ansatzweise zu rütteln. Ja. Viel zu viele Menschen sterben im Krieg. Aber es sterben auch viel zu viele Menschen in dem, was wir “Frieden” nennen und was doch nichts anderes ist als ein an Grausamkeit nicht zu überbietender Krieg der Reichen gegen die Armen…