Was haben sechsspurige Autobahnen mit dem Kapitalismus zu tun?

Der Bundesrat strebt einen Grossausbau der Schweizer Autobahnen an. Von der Öffentlichkeit noch weitgehend unbemerkt, hat er im Herbst eine neue «Langfristperspektive Nationalstrassen» skizziert, die auf eine markante Verbreiterung der Strassenkapazität abzielt. So sollen die Autobahnen «innerhalb und zwischen» den grossstädtischen Gebieten «konsequent auf mindestens zweimal drei Spuren» ausgebaut werden. In letzter Konsequenz heisst dies, dass die Autofahrer in Zukunft von Genf bis Basel oder St. Gallen durchgehend auf sechs Spuren unterwegs sein werden… Auf Zuspruch stösst das neue Zukunftsbild bei der Wirtschaft und bei bürgerlichen Verkehrspolitikern. So etwa sagt SVP-Nationalrat Ueli Giezendanner, mittlerweile seien Strasse und Schiene permanent überlastet. Da aber weitaus mehr Personen auf der Strasse unterwegs seien, müsse man unbedingt auch auf der Autobahn mehr Platz schaffen…

(NZZ am Sonntag, 6. Januar 2019)

Was haben sechsspurige Autobahnen mit dem Kapitalismus zu tun? Das ist einfach zu erklären. Das kapitalistische Wirtschaftssystem trägt immerwährendes, endloses Wachstum als Zweck in sich. Das zeigt sich an allen Ecken und Enden: Wo schon viel Geld ist, wächst das Geld umso schneller. Wo sich schon viele neue Einfamilienhäuser ins Grüne hinausfressen, fressen sich immer noch zusätzliche weiter ins Grüne hinaus. Wo schon viele Bürohochhäuser in den Zentren der Städte dicht an dicht beieinander stehen, werden noch zusätzliche, noch höhere, in die immer seltener werdenden Lücken hineingezwängt. Wo schon viele Menschen täglich Dutzende von Kilometern zwischen Wohn- und Arbeitsort hin- und herpendeln, nehmen dennoch die Zahl und die Länge der Pendlerströme täglich weiter zu. Und so ist es auch mit den Strassen: Wo früher zweispurige Strassen Dörfer und Städte miteinander verbanden, sind es heute immer mehr vierspurige Autobahnen, und bald nun schon sollen es sechsspurige Autobahnen sein. Wachsender Landverschleiss. Wachsender Energieverbrauch. Wachsende Umweltverschmutzung. Wachsendes Artensterben in der Tier- und Pflanzenwelt. Wachsender «Dichtestress». Interessabt ist, dass ausgerechnet ein Politiker der SVP, welche die Ursache von «Dichtestress» sonst immer bei der Zuwanderung ausländischer Menschen sieht, den Wachstumswahn bei den Strassen nicht bloss nicht in Frage stellt, sondern sogar ausdrücklich begrüsst. Ungeachtet dessen, dass mehr und breitere Strassen mehr und schnelleren Verkehr und damit mehr und schnellere Autos zur Folge haben, die sich dann ja nicht bloss auf den Autobahnen bewegen, sondern schliesslich auch Dörfer und Städte immer mehr verstopfen. Wenn es Herrn Giezendanner und seiner SVP wirklich um die Bekämpfung von «Dichtestress» ginge, dann müssten sie nicht gegen die Zuwanderung durch Ausländerinnen und Ausländer ankämpfen, sondern gegen die ungehinderte Ausbreitung des kapitalistischen Wirtschaftssystems an allen seinen Fronten.