Was haben die Wahlen in Tunesien mit den Wahlen in der Schweiz zu tun?

An den Präsidentschaftswahlen vom vergangenen Wochenende in Tunis beteiligte sich nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung. Grund ist eine weit verbreitete Ernüchterung über die soziale und wirtschaftliche Situation des Landes, die Hoffnungen, die mit der Revolution von 2011 und dem Ende der alten Regierung verbunden waren, haben sich weit gehend in nichts aufgelöst. Offensichtlich, so tönt es allenthalben, seien die Politiker, die seit acht Jahren an der Macht seien, nicht willens oder nicht fähig, sich der Sorgen ihrer Bürgerinnen und Bürger anzunehmen.

(Tages-Anzeiger,17. September 2019)

Was haben die Präsidentschaftswahlen in Tunesien mit den Parlamentswahlen in der Schweiz vom kommenden Oktober miteinander zu tun? Auf den ersten Blick: nichts. Auf den zweiten Blick: sehr viel. Nichts, wenn man die nationalstaatlichen Grenzen zum Massstab nimmt: Hier die Schweiz, dort Tunesien, zwei voneinander gänzlich unabhängige, unterschiedliche Staatsgebilde mit ihren je spezifischen Strukturen, Gesetzen, Verfassungen, Organisationen und Parteien. Viel dagegen haben die Wahlen in der Schweiz und in Tunesien miteinander zu tun, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die weltweiten – kapitalistischen – Wirtschaftsverflechtungen weder an der Grenze der Schweiz, noch an der Grenze von Tunesien Halt machen. Beide Länder sind Teil einer globalisierten Welt, in der einzelne Länder und Regionen zu den Gewinnern gehören und andere zu den Verlierern, was nicht so sehr eine Frage «fähiger» oder «unfähiger» Politiker und Politikerinnen ist, sondern viel mehr die Frage, in welche Rolle der kapitalistische Markt dieses oder jenes Land gedrängt hat. Tunesien könnte noch so fähige Politiker und Politikerinnen haben, die Lage der Bevölkerung würde sich kaum merklich verbessern. Und umgekehrt könnte die Schweiz noch so unfähige Politiker und Politikerinnen haben, der hierzulande herrschende Wohlstand wäre kaum gefährdet. Dass die Unterschiede zwischen reichen und armen Ländern so gross sind, hat damit zu tun, dass wir zwar in einer – immer stärker – globalisierten Welt wechselseitiger Wirtschafts- und Ausbeutungsbeziehungen leben, die Politik, erstarrt in den Strukturen des 19. Jahrhunderts, uns aber immer noch vorgaukelt, das Entscheidende und Wesentliche sei der Nationalstaat. Wir bräuchten daher, um diese Wechselbeziehungen offen zu legen, so etwas wie ein Weltparlament, in dem jeder Staat gemäss seiner Bevölkerungszahl angemessen vertreten wäre. Denn, ob Klima, Politik, Wirtschaft oder Soziales: Dauerhafte Lösungen können niemals darin bestehen, dass sich Einzelne Vorrechte gegenüber anderen erkämpfen und die Welt weiterhin in Sieger und Verlierer aufgeteilt bleibt. «Was alle angeht», sagte schon der bekannte Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, «können nur alle lösen.»