Was haben der Ukrainekonflikt und das christliche Gebot der Feindesliebe miteinander zu tun?

 

“Ich verurteile Putins Aggressionskrieg”, sagt der Zürcher Musiker Dodo Jud in einem Interview mit dem “Tagblatt” am 18. August 2022, “aber ich würde Putin meine Botschaft der Liebe, des Friedens, der Ehrlichkeit, des Respekts und der Gerechtigkeit übermitteln und ihn als Teil der Menschheit umarmen.” Was für eine Ungeheuerlichkeit! Ich höre schon tausende Empörte wie hungrige Hyänen über jemanden, der in der heutigen Zeit noch so etwas zu sagen wagt, herfallen. Das Harmloseste, was er zu hören bekäme, wäre wohl die Aufforderung, sich als “Putinfreund” so schnell wie möglich von der Schweiz zu verabschieden und sich nach Russland zu begeben. Doch Hand aufs Herz: Hat nicht Jesus genau das Gleiche gesagt? “Ihr habt gehört, was gesagt ist”, lesen wir in Kapitel 5 des Matthäusevangeliums, “du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde.” Auch der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King berief sich immer wieder auf diese Botschaft. “Die Liebe auch zu unseren Feinden”, sagte er, “ist der Schlüssel, mit dem sich die Probleme der Welt lösen lassen. Jesus ist kein weltfremder Idealist, sondern ein praktischer Realist.” Gerade das Beispiel von Martin Luther King zeigt, dass Feindesliebe nichts mit Weichheit, Ängstlichkeit oder Feigheit zu tun hat. Im Gegenteil: Martin Luther King kämpfte stets unerschrocken, mutig und setzte sich grössten Gefahren aus, die ihm schliesslich sogar das Leben kosten sollten – doch nie wich er vom Prinzip der Gewaltlosigkeit ab, setzte ausschliesslich auf gewaltfreie Aktionen wie Sitzstreiks, Märsche und Boykotte und distanzierte sich von Mitstreitern, die den Weg der Gewalt beschreiten wollten. 

Nun gut, werden viele sagen, aber man kann doch nicht einen Tyrannen, Despoten oder Gewalttäter wie Putin lieben wollen. Einen, der einen völkerrechtswidrigen Krieg vom Zaun gerissen und abertausende Menschenleben auf dem Gewissen hat. Eine solche Argumentation ist auf den ersten Blick zweifellos nachvollziehbar. Und doch müssen all jene, die in Putin schon fast die Wiedergeburt des Teufels zu erkennen glauben, zur Kenntnis nehmen, dass der von den USA angeführte Krieg gegen den Irak 2003 ein weitaus Mehrfaches an Todesopfern gefordert hatte, ohne dass der hierfür verantwortliche US-Präsident George W. Bush dafür jemals zur Rechenschaft gezogen worden wäre. Auch müsste man zur Kenntnis nehmen, dass die weltweite Ungleichverteilung der Nahrungsmittel, welche zur Hauptsache eine Folge der westlich-kapitalistischen Handelspolitik ist, dazu führt, dass jeden Tag weltweit rund 15’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben – eine Tatsache, die längst jedem auch nur einigermassen informierten Bürger, jeder auch nur einigermassen informierten Bürgerin der westlichen Hemisphäre bekannt sein müsste, ohne dass sich nennenswerter politischer Widerstand regen würde, diesen Missstand, den man nicht anders bezeichnen kann denn als himmelschreiendes Verbrechen, aus der Welt zu schaffen. Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen oder gar zu verharmlosen. Der russische Angriff auf die Ukraine ist ein Verbrechen. Aber der Irakkrieg 2003 war eben auch auch ein Verbrechen, ebenso wie der Hungertod von 15’000 Kindern jeden Tag. Wenn wir, zu Recht, die Missetaten und Verbrechen anderer anprangern, dann müssen wir, um glaubwürdig zu sein, unsere eigenen Missetaten und Verbrechen ebenso klar, unmissverständlich und hartnäckig anprangern.

Mit seiner Aussage, Putin umarmen zu wollen, hat Dodo Jud sozusagen die Welt auf den Kopf gestellt und gesagt: Schaut mal her, eigentlich könnte man alles auch ganz anders anschauen. Genau solche Perspektivenwechsel brauchen wir in der heutigen Zeit, wo die Fronten hüben und drüben fester eingefahren zu sein scheinen als je zuvor und es nur noch die “Wahrheit” auf der einen Seite gibt und die “Wahrheit” auf der anderen und nichts dazwischen. Feindesliebe löst die Fronten auf, macht den Blick frei für Neues, was man zuvor noch nicht gesehen hat. Bloss auf der Seite der “Mehrheit” zu sein, heisst noch nicht, im Besitze der Wahrheit zu sein. Denn, wie der amerikanische Schriftsteller Mark Twain so treffend sagte: “Wann immer du feststellst, dass du auf der Seite der Mehrheit bist, ist es Zeit innezuhalten und nachzudenken.” Auch Albert Einstein betonte stets die Bedeutung eigenständigen Denkens als Grundvoraussetzung für die Demokratie und warnte vor der Gefahr jeglichen “Gleichschritts”, bei dem sich alle in die gleiche Richtung bewegen und niemand mehr fragt, wohin es denn überhaupt gehe. “Wenn man mit der Masse geht”, so Einstein, “kommt man nur so weit wie die Masse. Wenn man den eigenen Weg geht, kommt man an Stellen, wo noch keiner war.” Dodo Hug mag mit seiner Aussage reichlich weit gegangen sein. Und doch kann nur so Bewegung in das Erstarrte hineinkommen und nur so kann der Blick frei werden für neue Sichtweisen und die Hoffnung auf eine Zukunft, die vielleicht besser sein wird als die Gegenwart…