Was die Klimakrise und eine falsch verstandene Fortschrittsgläubigkeit miteinander zu tun haben

 

Ich habe noch von keinem einzigen Politiker, keiner einzigen Politikerin und keiner einzigen politischen Partei die Forderung gehört, Wohlstand sei abzubauen. Im Gegenteil: Alle, ob “links”, “rechts” oder “grün”, propagieren stets nur eine Steigerung des vorhandenen Wohlstands und dass es den Menschen in Zukunft stets besser gehen solle als in der Vergangenheit und der Gegenwart. Dabei wäre doch genau dies, ein Abbau unseres im weltweiten Vergleich geradezu paradiesischen Wohlstands, das einzige mögliche Mittel, um der Klimakrise wirksam zu begegnen. Um nicht missverstanden zu werden: Ich rede nicht von all jenen Menschen, die selbst mitten in den “reichen” Ländern Europas trotz meist härtester Arbeit so wenig verdienen oder so wenig finanzielle Unterstützung bekommen, dass sie ihre Wohnungsmiete nicht bezahlen können, auf den dringend nötigen Zahnarztbesuch verzichten müssen, sich nicht einmal ein Kino- oder Theaterticket leisten können oder vielleicht sogar am Ende des Monats nicht einmal mehr zwei ausreichende Mahlzeiten pro Tag auf dem Tisch haben. Nein, ich rede von den tausenden SUVs, die tagein tagaus über vier- oder sechsspurige Autobahnen donnern. Ich rede von Ferienflügen nach Mallorca, nach Teneriffa oder auf die Malediven. Ich rede vom Fünfgangmenu im Luxushotel. Ich rede von den Skifahrern, die sich per Helikopter auf einen Gletscher fliegen lassen. Ich rede von den Passagierinnen und Passagieren eines Kreuzfahrtschiffs quer durch das Mittelmeer. Ich rede von der Zweit- oder Drittwohnung im Tessin, am Genfersee oder auf der Lenzerheide. Ich rede von den Milliarden Kleidungsstücken, die in armen Ländern zu Hungerlöhnen produziert werden und in unseren Modeketten so billig zu haben sind, dass viel zu viel davon gekauft wird und das Kleidungsstück oft schon im Müll landet, bevor es auch nur ein einziges Mal getragen wurde. Ich rede von den Lebensmitteln, die auch, wie die Kleider, so billig sind, dass wir uns den Luxus leisten können, ein Drittel des Gekauften in den Müll zu werfen. Ich rede von Computern, Laptops und Smartphones, die einem so rasanten technischen Wandel unterworfen sind, dass ein eben erst gekauftes Gerät oft schon nach nicht einmal zwei Jahren durch ein neues ersetzt wird. Ich rede von Fernsehbildschirmen, die immer grösser werden und eine immer bessere Bildqualität aufweisen, so dass auch hier laufend tausende von Geräten, die noch bestens funktionieren würden, wieder durch neue ersetzt werden. Ich rede von der Werbeindustrie, die uns immer wieder Produkte schmackhaft zu machen versucht, die wir dann kaufen, obwohl wir sie gar nicht wirklich brauchen. Jahrzehntelang benützte man, für ärmere Länder des Südens, den Begriff “unterentwickelt”. Müsste man nicht, analog dazu, für die reichen Länder des Nordens den Begriff “überentwickelt” verwenden? Oder wäre es vielleicht noch zutreffender, von “fehlentwickelt” zu sprechen? Vielleicht ist es das, was die Natur in Gestalt der Klimakrise uns sagen will: Ihr lebt nicht so, wie die Erde als Ganzes es lieben würde. Ihr lasst auf dieser gleichen Erde unermesslichen Reichtum und unsägliche Armut zu. Ihr verletzt tagtäglich die heiligen Gesetze des Lebens, der Würde, des Gleichgewichts, der Gerechtigkeit. Könnten wir die Sprache der Natur verstehen, dann wäre dies wohl ein milliardenfaches Klagen, Schreien und Weinen, von den brennenden Wäldern über die schmelzenden Gletscher und aus den Schlachthöfen bis hin zu den abertausenden Insekten, die schon ausgestorben oder unmittelbar davon bedroht sind. Ja, wir müssen dringend Abschied nehmen vom Irrglauben, immer mehr Wohlstand sei möglich, jeder könne auf der Leiter von Geld und Besitztum immer weiter in die Höhe steigen. Das Gegenteil muss Wirklichkeit werden: der Verzicht auf unnötigen Luxus, die Besinnung auf das, was wirklich notwendig ist für ein gutes Leben, das gleichzeitig auch ein gutes Leben ist für alle anderen Menschen, für die Tiere, die Pflanzen, die ganze Natur. Denn, wie schon Mahatma Gandhi sagte: “Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.” Nehmen wir das Ernst, würde dies nicht weniger als den Beginn einer neuen Ära in der Menschheitsgeschichte bedeuten. Die Abkehr nämlich von einer falsch verstandenen Fortschrittsgläubigkeit, von der wir immer deutlicher und immer drastischer erkennen, dass sie uns an einen Punkt gebracht hat, wo es mit den bisherigen Denkmustern und Wertvorstellungen schlicht und einfach so nicht mehr weitergehen kann. Oder, wie es Martin Luther King so treffend formulierte: “Entweder lernen wir, als Brüder und Schwestern gemeinsam zu überleben, oder wir werden miteinander als Narren untergehen.”