Von zwanzigstündigen Arbeitstagen bis zur kapitalistischen Brandrede: Ein kritischer Rückblick auf das World Economic Forum im Januar 2024

Minus 13 Grad misst das Thermometer heute in Davos. Schlotternd steht er in einem offenen, ungeheizten Holzhäuschen, verkauft während acht Stunden pro Tag heissen Tee und warme Suppe. Er trägt eine dünne, ungefütterte Jacke. Nein, es hätte ihm niemand gesagt, dass er im Freien arbeiten müsse. Auch die Taxifahrerinnen und Taxifahrer schlottern, während sie mitten in der Nacht auf Kundschaft warten, aus Kostengründen haben sie die Heizungen in ihren Fahrzeugen abgestellt. Unweit davon geht in einem der Häuser, wo Angestellte untergebracht sind, um zwei Uhr nachts in einem der Zimmer das Licht an. Das Zimmermädchen aus Kroatien, das nach einem zwanzigstündigen Arbeitstag soeben zu Bett gegangen ist, muss schon wieder aufstehen, hat einen Telefonanruf erhalten, sie müsse möglichst schnell zwanzig Hemden und mehrere Anzüge aufbügeln. Andere feine Herren aus der erlauchten WEF-Gästeschar geben auch schon mal den Auftrag, ihnen die Schuhe zu binden, weil so etwas offensichtlich ganz und gar unter ihrer Würde liegt. Die mit silbernen und goldenen Kleiderbügeln, Fitnessräumen, Wellnessbädern, Sauna und Bibliotheken ausgestatteten Chalets, wo viele der WEF-Gäste inklusive den von ihnen mitgebrachten Butlern, Fitnesstrainern, Ärzten, Chauffeuren, Köchen, Sicherheitspersonal und weiteren Angestellten logieren, müssen täglich von unten bis oben geschrubbt werden, oft müssen in den einzelnen Chalets nach dem Weggang von Gästen, die übermässig geraucht haben, Teppiche und Sofas gereinigt und sämtliche Holzverkleidungen, Balken und Wände abgeschliffen werden.

Nichts könnte die kapitalistische Klassengesellschaft noch drastischer ins Scheinwerferlicht rücken als das jährliche World Economic Forum in Davos. Buchstäblich ganz oben, dort, wo sich der berühmte Roman “Der Zauberberg” von Thomas Mann abspielt und wo sich schon seit eh und je die Reichen und Mächtigen ihre Stelldicheins gaben, haben sie sich wieder versammelt, um sich gegenseitig zu feiern. Der Mann im Holzhäuschen und das Zimmermädchen aus Kroatien befinden sich auf der Pyramide der weltweiten kapitalistischen Klassengesellschaft, verglichen mit Millionen und Milliarden anderer, immer noch relativ weit oben. Von den anderen Millionen und Milliarden spricht schon gar niemand mehr, sie sind unsichtbar, obwohl sie auf ihren Schultern diese ganze höchste Spitze tragen und in Textilfabriken, auf Kakaoplantagen, schwindelerregenden Baustellen und in lebensgefährlichen Bergwerken von Lateinamerika über Afrika bis Ostasien bis zur Erschöpfung Tag und Nacht an jenem Fundament bauen, ohne welches die feinen Herren und Damen in Davos noch so lange und vergeblich von Wirtschaftswachstum, freier Marktwirtschaft und steigenden Bruttosozialprodukten faseln könnten, weil es das alles ohne diese Milliarden Unsichtbaren und Vergessenen nämlich schon längst gar nicht mehr gäbe.

Eigentlich müssten glaubwürdige politische und wirtschaftliche “Führungskräfte” die eifrigsten und demütigsten Diener ihrer Völker sein. Nicht umsonst ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes “Minister” der “Diener seines Volks”. Tatsächlich aber ist es im Kapitalismus genau umgekehrt: Die politischen und wirtschaftlichen “Führer” sind im extremsten Ausmass Profiteure und Nutzniesser ihrer Völker, geniessen die höchsten Privilegien, haben am meisten Macht, wohnen in den schönsten und teuersten Häusern, geniessen die köstlichsten Speisen, verfügen über die beste Gesundheitsversorgung, können sich die erlesensten Reisen und Luxusvergnügungen leisten und entscheiden sogar eigenmächtig über Krieg oder Frieden, ohne je selber in den Krieg ziehen zu müssen. Und das alles mit gestohlenem Geld. Gestohlen aus jahrhundertelanger kolonialer Ausbeutung, gestohlen aus rücksichtslosem Raubbau an Bodenschätzen, gestohlen aus der Zerstörung zukünftiger Lebensgrundlagen, gestohlen aus all dem, worauf die weniger privilegierten Bevölkerungsschichten in jedem einzelnen Land von Brasilien über Nigeria, von Kanada bis Grossbritannien, von Spanien und dem Libanon bis Russland und Japan verzichten müssen in einer Welt, in der, wie die Entwicklungsorganisation Oxfam unlängst öffentlich bekannt gemacht hat, sämtliche Milliardäre über alle Grenzen hinweg innerhalb der letzten drei Jahre ihr Vermögen um 3,3 Billionen US-Dollar steigern konnten, während die fünf Milliarden ärmsten Menschen im gleichen Zeitraum 20 Milliarden US-Dollar Vermögen verloren haben und man schon unendlich blind sein muss, um nicht zu erkennen, dass die wachsende Armut der Armen und der wachsende Reichtum der Reichen keine Zufälle sind, sondern die beiden unauflöslich miteinander verbundenen Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze, und dass jedes Geldstück, das in den Taschen der Armen fehlt, früher oder später wieder in den Taschen der Reichen zu finden ist.

Doch solche Dinge interessieren die versammelte “Weltelite” auf dem Zauberberg nicht. Allein die Pressenachricht von Oxfam über die weltweit wachsende Kluft zwischen Arm und Reich hätte wie eine Bombe einschlagen und ganze bisherige Weltbilder einstürzen lassen müssen. Doch nichts von alledem geschieht. Was die eigenen vermeintlichen “Wahrheiten” in Frage stellen könnte, wird systematisch verdrängt. Was man nicht hören will, vor dem verschliesst man die Ohren. Lieber wiederholt man zum tausendsten Mal die ewiggleichen Geschichten von gestern und vorgestern, so wie der ukrainische Präsident Selenski, der immer noch die Forderung erhebt, sein Land müsse den Krieg gegen Russland “gewinnen” – als ob es so etwas gäbe wie “gerechte” und “ungerechte” Kriege, als ob man allen Ernstes Kriege überhaupt “gewinnen” könne und als ob nicht ein jeder Krieg nichts anderes ist als eine einzige grosse Niederlage und Kapitulation jeglicher Menschlichkeit. Oder, wie es Michail Gorbatschow, der letzte Präsident der Sowjetunion, so wunderbar sagte: “Sieger ist nicht, wer Schlachten gewinnt. Sieger ist, wer Frieden stiftet.” Doch lieber vom Frieden spricht Selenski vom Krieg und lieber bastelt er an den alten, bewährten Feindbildern eifrig weiter, nennt Putin ein “Raubtier” und stellt sich damit in eine Reihe mit dem ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan, der in seinem Roman “Himmel über Charkiw” sämtliche Russen als “Hunde”, “Schweine”, “Verbrecher”, “Unrat” und “Barbaren, die unsere Geschichte, unsere Kultur und unsere Bildung vernichten wollen” bezeichnete und nicht einmal davor zurückschreckte, zu fordern, alle diese “Schweine” sollten “in der Hölle brennen” – und für all dies den Friedenspreis 2022 des Deutschen Buchhandels zugesprochen bekam. Solche einseitigen und letztlich menschenfeindlichen Weltbilder scheinen der heutigen “Weltelite” zu gefallen: Nach Selenskis Rede am ersten Tag des WEF erhob sich das Publikum zu Standing Ovations – eine Ehre, die letztmals im Jahre 1992 dem südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela zuteil kam, was auf erschreckende Weise zeigt, wie stark sich die Welt in diesen 32 Jahren offensichtlich verändert hat. Und dabei wüsste man doch schon längst, dass, so der bekannte Buchautor Thomas Pfitzer, “der Aufbau von Feindbildern” nichts anderes ist als die “wirksamste Methode zur Manipulation der Massen.“

Doch Selenski ist nicht der Einzige, der am WEF ungehindert seine “Wahrheiten” verbreiten darf und dafür erst noch mit Begeisterung und Applaus bedacht wird. Auch dem frisch gewählten argentinischen Präsidenten Javier Milei, der im Wahlkampf mit einer Kettensäge posierte, alles, was nur im Entferntesten mit staatlichen Massnahmen für soziale Gerechtigkeit zu tun hat, als Teufelszeug verwirft, den menschengemachten Klimawandel leugnet, den Kapitalismus als einzige Wirtschaftsform, welche die Menschen aus der Armut zu befreien vermöge, glorifiziert und, kaum war er gewählt, nicht nur das Bildungsministerium, sondern auch das Umweltministerium, das Kulturministerium, das Gesundheitsministerium, das Ministerium für Arbeit und soziale Entwicklung und das Ministerium für Wissenschaft und Technologie abschaffte, auch ihm wird aufmerksam zugehört, auch ihm stellt niemand eine kritische Frage und auch er erhält am Ende seiner Rede einen warmen, übereinstimmenden Applaus. Nicht anders als der israelische Präsident Isaac Herzog, der, ganz auf den Spuren von kalten Kriegern wie Ronald Reagan, den Iran als das “Reich des Bösen” bezeichnet und einmal mehr die Behauptung in die Welt setzt, israelische Babys seien von den Hamaskämpfern am 7. Oktober 2023 geköpft und ganze Familien verbrannt worden, obwohl für beides bis heute keine eindeutigen Beweise vorliegen und selbst US-Präsident Joe Biden zugeben musste, er hätte die Bilder, von denen er gesprochen hätte, selber gar nie gesehen. Dass dann aber aus dem Munde eines israelischen Präsidenten, der hauptverantwortlich ist für den Tod von über zehntausend unschuldigen palästinensischen Kindern im Gazastreifen, unverfroren die Aussage kommt, Israel kämpfe diesen Krieg “für das ganze Universum und für die ganze freie Welt” und es deshalb auch “keinen Waffenstillstand” geben dürfe, ist nun an Menschenverachtung und Zynismus nicht mehr zu überbieten. Doch auch dieser Rede wird andächtig zugehört und es scheint niemandem auch nur im Entferntesten in den Sinn zu kommen, sie auch nur mit einem einzigen Buh-Ruf zu unterbrechen.

Doch während man Selenski, Milei, Herzog und allen anderen “Führungsfiguren”, welche für sich in Anspruch nehmen, die westliche “Wertewelt”, “Freiheit” und “Demokratie” zu verkörpern, eine so grosse Plattform für die Verbreitung ihrer “Wahrheiten” bietet und damit auch die mediale Präsenz weit in die ganze Welt hinaus, praktiziert man auf der anderen Seite im Umgang mit all jenen Stimmen, welche diese Einheitlichkeit stören oder gar in Frage stellen könnten, das pure Gegenteil: Mit Vertreterinnen und Vertretern von Umwelt- oder Antiglobalisierungsbewegungen wird nicht mehr das Gespräch gesucht, sie bleiben in der Kälte von Davos aussen vor, nicht einmal die Strasse von Klosters nach Davos dürfen sie für einen friedlichen Protestspaziergang benützen, sondern werden, während die Privathubschrauber der “Weltelite” über ihre Köpfe hinwegfliegen, auf Spazierwege verwiesen, und dies, obwohl es bei einer 2020 noch bewilligten Kundgebung von 200 Personen auf der Hauptstrasse keinen einzigen Zwischenfall gegeben hatte. Und auch die eben noch so gefeierte und im Rampenlicht stehende Greta Thunberg wurde nicht mehr eingeladen, und dies nur, weil sie die ungeheuerliche Frechheit besass, die israelische Regierung wegen der Bombardierung des Gazastreifens zu kritisieren.

Derweilen bekommt man beim Anblick der Bilder vom WEF den Eindruck, als ginge es dabei um so etwas wie die Begegnung zwischen eng vertrauten Menschen, die sich schon eine Ewigkeit lang nicht mehr gesehen haben und nun ausser sich vor Freude sind, sich endlich wieder zu treffen, so innig sind die Umarmungen und die gegenseitigen Freundschafts-, ja fast Liebesbezeugungen. Es sind sich ja alle so wunderbar einig. Kein Wunder, nachdem man sich allem, was diese Einigkeit in Frage stellen könnte, so systematisch verschlossen hat und sich nicht einmal die Mühe nimmt, andere Meinungen zu widerlegen, sondern das tut, was noch viel schlimmer ist: nämlich, alles Störende schlicht und einfach totzuschweigen, als würde es gar nicht existieren.

“Die geheimen Verbote”, sagte die DDR-Bürgerrechtskämpferin Bärbel Bohley im Jahre 1991, “das Beobachten, der Argwohn, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.” Und Paul Watzlawick, österreichisch-amerikanischer Philosoph, Psychotherapeut und Kommunikationswissenschaftler, sagte: “Der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit, ist die gefährlichste Selbsttäuschung.“ Worte, die aktueller nicht sein könnten. Die aber zugleich auch Anlass zur Hoffnung geben, dass auch das Gegenteil wieder denkbar werden könnte. Denn wenn sich die allgemein propagierten und gefeierten “Wahrheiten” zu stark und immer mehr nur noch in eine einzige Richtung bewegen, dann müssen auf der anderen Seite früher oder später auch die Kräfte wachsen, die das durchschauen und in Frage stellen. Die Wahrheit lässt sich nicht beliebig lange unterdrücken. Oder, wie der frühere US-Präsident Abraham Lincoln sagte: “Man kann alle Leute eine Zeitlang an der Nase herumführen, und einige Leute die ganze Zeit, aber nicht alle Leute die ganze Zeit.” Im Allerinnersten scheinbar ewiger “Wahrheiten” steckt schon der Kern ihrer Überwindung. Wenn die Zustände zu extrem werden, wird es Zeit für etwas von Grund auf Neues: “In einer Zeit der Täuschung”, so der englische Schriftsteller und Journalist George Orwell, “wird das Aussprechen der Wahrheit zum revolutionären Akt.” Dann wäre das WEF 2024 vielleicht im besten Falle nicht nur das Ende einer alten, sich noch einmal in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit aufbäumenden Zeit gewesen, sondern zugleich der Anfang einer neuen Zeit voller Hoffnung auf eine Zukunft, in der frierende Suppenverkäufer und Taxifahrer, Zimmermädchen, die um zwei Uhr nachts zwanzig Hemden und mehrere Anzüge aufbügeln müssen, der weltweit tägliche Hungertod von 10’000 Kindern in den Ländern des Südens bei gleichzeitig nie da gewesenem Überfluss in den Ländern des Nordens, das wahnwitzige Festhalten an der Ideologie eines immerwährendes Wirtschaftswachstum und der aller menschlichen Vernunft widersprechende Glaube, Konflikte zwischen Ländern oder Völkern könnten durch militärische Gewalt sinnvoll gelöst werden, für immer der Vergangenheit angehören werden.