Von illegalen Kinderadoptionen bis zum Nahostkonflikt: Und immer wieder reibe ich mir die Augen…

Gemäss einem Bericht der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), so berichtet der “Tagesanzeiger” am 9. Dezember 2023, wurden zwischen den 70er- und den 90er-Jahren aus Bangladesch, Brasilien, Chile, Guatemala, Indien, Kolumbien, Korea, Libanon, Peru und Rumänien mehrere Tausend Kinder unrechtmässig in die Schweiz adoptiert. Es steht fest, dass die Schweizer Behörden über Hinweise auf solche illegale Praktiken verfügten. Schweizer Botschafter schickten beispielsweise Zeitungsartikel über Kinderhandel nach Bern. Ein Artikel aus dem Jahre 1987 berichtete von der Verurteilung eines brasilianischen Anwalts, der während Jahren Kinder illegal an Adoptiveltern vermittelt haben soll, darunter auch in die Schweiz. Für jedes Kind habe er 8000 Dollar erhalten. Auch Dokumentenfälschungen waren bekannt. So erbat etwa der Vizekonsul in Rio de Janeiro bereits 1970 eine Stellungnahme aus Bern wegen gefälschter Geburtsscheine. Die Behörden in Bern antworteten auf Hinweise dieser Art, die Überprüfung dieser Dokumente sei nicht Aufgabe der Schweizer Botschaften. Der Konsens sei damals gewesen, so stellt der Bericht der ZHAW fest, dass es diese Kinder “in der Schweiz besser” hätten. Mehrere Organisationen, unter ihnen das Schweizerische Rote Kreuz, fordern nun eine umfassende historische Aufarbeitung und eine Analyse der aktuellen Adoptionspraxis.

Neun Monate vor der Veröffentlichung dieses Berichts der ZHAW, am 17. März 2023, erliess der Internationale Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin, beruhend auf dem Verdacht, dass Putin für illegale Deportationen ukrainischer Kinder nach Russland verantwortlich sei. Putin und die zuständige Ministerin wiesen die Vorwürfe zurück und begründeten die Massnahme damit, dass es diese Kinder “in Russland besser” hätten als im Kriegsgebiet, wo sie ständiger Lebensgefahr ausgesetzt seien.

Ich reibe mir die Augen. Was im einen Fall Anlass für einen internationalen Haftbefehl war und es Putin verunmöglicht, zukünftig Auslandsreisen zu unternehmen, um sich nicht der Gefahr einer Festnahme auszusetzen, versickert im anderen, durchaus vergleichbaren Fall in irgendwelchen Amtsräumen und Schubladen gutschweizerischer Bürokratie…

Doch es ist nicht das einzige Mal, dass ich mir in jüngster Zeit immer wieder die Augen reiben muss. So auch, als ich las, Sportlerinnen und Sportler aus Russland und Belarus seien gemäss einer Empfehlung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) an den Olympischen Spielen 2024 in Paris zugelassen, aber nur als “Neutrale”. Athletinnen und Athleten, die dem Militär angehörten, sowie Teams aus den beiden Nationen sollen jedoch weiterhin ausgeschlossen bleiben. Während somit gerade mal elf “Neutrale” aus Russland und drei aus Belarus an den Wettkämpfen teilnehmen werden, wird die Ukraine mit einer Delegation von 60 Sportlerinnen und Sportlern dabei sein. Gleichzeitig habe ich noch nie etwas davon gehört, dass irgendwer auf die Idee gekommen wäre, Athletinnen und Athleten Israels, das bis zur Stunde für die Ermordung von mindestens 12’000 palästinensischen Zivilpersonen verantwortlich ist, von den nächsten Olympischen Sommerspielen auszuschliessen…

Die Augen reibe ich mir auch immer wieder, wenn ich am Schweizer Fernsehen die Berichterstattung über die jüngsten Ereignisse im Nahen Osten verfolge. So etwa sei die Waffenpause Ende November zwischen der “Terrororganisation Hamas” und der “israelischen Regierung” ausgehandelt worden. Überhaupt wird das Wort “Terror” immer nur in Verbindung mit dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 verwendet, nie aber in Verbindung mit den Bombardierungen des Gazastreifens durch Israel, welche inzwischen bereits rund zehnmal mehr Todesopfer gefordert haben. Ich lese, israelische Zivilpersonen seien von den Hamaskämpfern “ermordet” worden, während palästinensische Zivilpersonen durch die israelischen Luftangriffe “getötet” worden seien. Und als die “Tagesschau” über die 75jährige Geschichte der UNO-Menschenrechte berichtete, hiess es im Kommentar, Beschlüsse der UNO könnten per Veto von “einzelnen Ländern wie zum Beispiel Russland” torpediert werden, obwohl ausgerechnet am selben Tag die USA mit ihrem Veto im Sicherheitsrat der ungehinderten Fortsetzung der israelischen Bombenangriffe auf den Gazastreifen zugestimmt hatten.

Grund, mir die Augen zu reiben, gibt es auch jedes Mal, wenn der “Vergeltungsschlag” Israels gegen die palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens damit gerechtfertigt wird, dass er eine legitime Reaktion auf den Überfall der Hamas vom 7. Oktober darstelle, während genau die gleichen Kreise die These, dass die Brutalität und Skrupellosigkeit der Hamas nicht zuletzt eine mögliche Folge jahrzehntelanger Verfolgung und Vertreibung des palästinensischen Volks sein könnte, in aller Vehemenz in Abrede gestellt wird – der geschichtliche Kontext ist offensichtlich nur so lange dienlich, als er in die eigene Ideologie hineinpasst.

Schliesslich habe ich mir auch gestern Abend, und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, ganz gehörig die Augen gerieben, als ich kurz in die Diskussionssendung “hart aber fair” auf ARD hineinschaute. Jedes Mal, wenn einer der Diskussionsteilnehmer zum “Kampf” oder zur “Zerschlagung” der Hamas aufrief, lösten diese Wörter begeisterten Applaus des anwesenden Publikums aus, während es auf den Aufruf eines anderen Diskussionsteilnehmers, nun endlich die Waffen zu strecken, zur Vernunft zu kommen und eine “friedliche Lösung” zu suchen, im gleichen Publikum beklemmend still blieb…

Augenblicke, in denen ich mich manchmal am liebsten aus all so unermesslichen Widersprüchlichkeiten, Absurditäten und Lügen für immer verabschieden möchte. Aber dann meldet sich sogleich auch wieder der Zorn, die Wut, das Aufbäumen gegen all die Verdrehungen, all die tägliche, lautlose, oft kaum mehr bewusst wahrgenommene Gedankenmanipulation im Dienste der Mächtigen und all jener, denen jedes Mittel recht ist, die Wahrheit so zurechtzubiegen, dass sie ihren Interessen entspricht. Nein, all die unzähligen Leisen, Fragenden, Beharrlichen, Wahrheitssuchenden dürfen sich nicht verabschieden. Sie sind wichtiger denn je. „Scheut euch nicht, eure Stimme für Ehrlichkeit und Wahrheit und Mitgefühl gegen Ungerechtigkeit und Lüge und Gier zu erheben”, sagte der amerikanische Schriftsteller William Faulkner, “wenn die Menschen auf der ganzen Welt dies täten, würde das die Erde tiefgreifend verändern.“