Die Psychologin hat mehrere Blätter vollgekritzelt. Kreise, die sich überschneiden, andere Kreise, die sich bloss berühren, wieder andere, die weit voneinander entfernt sind. Kleinere und grössere Figürchen, die sich berühren oder einander mit grimmigem Gesicht anschauen. Dazwischen kleinere und grössere Pfeile, von links nach rechts, von oben nach unten, andere wiederum, die ihre Richtung wechseln und am Schluss wieder dort landen, wo sie angefangen haben. Dort musst du noch einmal anfangen, sagt die Psychologin zur fünfzehnjährigen Charlotte, die infolge einer schon länger anhaltenden Depression heute zur Therapiestunde gekommen ist, dort – und sie zeigt auf einen winzigen Punkt neben einem der weiblich dargestellten Figürchen – musst du noch einmal anfangen. Überlege dir bis zum nächsten Mal, was dir damals durch den Kopf ging. Überprüfe, ob du das, was du dachtest, auch noch deiner heutigen Sicht entspricht. Führe das Tagesprotokoll weiter, schreibe jeden Abend etwas auf, was dich besonders gefreut hat, und etwas, worüber du dich besonders genervt hast. Ergänze auch noch einmal die Zeichnung vom letzten Mal, da fehlt immer noch ein typisches Wort deines Bruders in der Sprechblase. Nimm dir fünf Dinge vor, die du in deinem Leben ändern möchtest. Lies den Text über die Spiegelbilder und überlege dir, wie du auf andere wohl wirkst, wenn du manchmal so ausrastet, wie du mir das erzählt hast.
Eine Woche später. Eigentlich wäre heute der nächste Termin bei der Psychologin. Doch Charlotte hat ihr eine Nachricht geschickt, sie sei krank, sie könne heute nicht kommen. Ich will überhaupt nicht mehr zu dieser Psychologin gehen, sagt sie zu mir. Immer stochert sie in der Vergangenheit und das will ich nicht, ich habe es ihr auch gesagt, aber sie hat gesagt, es sei eben wichtig, auch wenn es mir unangenehm sei. Ich will auch nicht, dass sie mich immer als diese kleine hilflose Figur zeichnet, das bin nicht ICH. Ich will auch nicht, dass sie mir immer irgendwelche Aufgaben gibt, die mir keinen Spass machen. Ich will einfach meine Ruhe haben. Ich will einfach Spass haben. Ich will einfach leben. Immer sagt sie, was ich alles in meinem Leben ändern müsse. Ich WILL gar nichts ändern. Immer gibt sie mir zu verstehen, dass alles viel besser wäre, wenn ich ANDERS wäre als so, wie ich bin. Ich WILL aber gar nicht anders sein. Ich will SO sein, wie ich BIN. Nein, ich werde definitiv nie mehr zu dieser Psychologin gehen.
Es ist nicht die erste Geschichte dieser Art. Immer und immer wieder höre ich in letzter Zeit solche Geschichten. Sie haben drei oder vier Monate auf einen Gesprächstermin gewartet, voller Hoffnung, endlich professionelle Hilfe zu bekommen. Und dann sagen sie schon nach dem ersten oder dem zweiten Gespräch wieder ab. Weil sie spüren, dass es nicht das ist, was sie wirklich brauchen.
Ich habe keine Ausbildung in Psychologie oder Psychiatrie. Aber vielleicht gerade deshalb spüre ich, dass hier etwas nicht gut ist. Ich glaube an die Wirkkraft der Liebe. Ich glaube, dass es genügt, einen Menschen zu lieben, ihm zu verstehen zu geben, dass er so, wie er ist, GUT ist. Dass er nicht ANDERS werden soll, sondern so bleiben soll, wie er IST. Menschen können nicht ANDERE Wege gehen, sondern nur ihre EIGENEN.
Charlotte hat mir heute ihr Leben erzählt, zwei Stunden lang. Ich habe ihr einfach zugehört. Vor mir ist das Bild eines Menschen entstanden, der zu jedem Zeitpunkt seines bisherigen Lebens alles immer genau richtig gemacht hat, denn was immer du tust in deinem Leben, du tust es nur deshalb, weil du hundertprozentig davon überzeugt bist, dass es in diesem Moment das einzige Richtige ist. Es hat immer einen tieferen Grund. Es können nach herkömmlicher Vorstellung “Fehler” sein, es können scheinbar “unnötige” Umwege sein, es können “Rückschläge” oder “Misserfolge” oder “Enttäuschungen” oder “Illusionen” sein oder was immer, aber es ist stets DEIN Weg, und es gibt keinen anderen.
Was du trotz aller Schwierigkeiten in deinem Leben schon geschafft hast, sage ich zu Charlotte, und ich nehme sogleich ihren fragenden, zweifelnden Blick wahr, als würde sie es nicht so recht glauben wollen, weil es ihr vielleicht noch nie jemand mit diesen Worten gesagt hat. Schon als ich dich, fahre ich fort, zum ersten Mal mit deinem jüngeren Bruder spielen sah, ist mir aufgefallen, wie geduldig zu bist, wie liebevoll du mit ihm umgehst, wie viel es braucht, um dich aus der Fassung zu bringen. Weisst du, wie schön es für andere Menschen sein muss, mit dir zusammen zu sein, dich kennen zu lernen, zusammen mit dir etwas auszuhecken, zusammen mit dir einen Plan zu schmieden…
Ich glaube, dass die LIEBE genügt. Ich glaube, dass Menschen, die sich geliebt fühlen, fähig sind, sich selber zu therapieren, weil die Liebe zu sich selber die einzige Kraft ist, die sie dazu wirklich befähigt. Ich glaube, dass auch ein trauriges Kind aus einem ärmeren Land, wo es keine professionelle Psychotherapien gibt, wieder glücklicher zu werden vermag, wenn es in einer liebevollen Umgebung aufwachsen kann. Und gleichzeitig glaube ich, dass ein Kind selbst im reichsten Land der Welt und mit noch so aufwendiger und “professioneller” therapeutischer Unterstützung, wenn diese nicht von Liebe getragen ist und das Kind auch in seinem übrigen Alltag keine Liebe findet, nicht wirklich glücklich und gesund werden kann.
Ich möchte nicht ein pauschales Urteil fällen. Ich weiss, dass es unzählige Therapeutinnen und Therapeuten gibt, die genau mit diesem Ansatz arbeiten. Aber ich weiss ebenfalls, dass es auch viel zu viele andere gibt. Psychologinnen und Psychologen, die zwar über ein immenses Fachwissen verfügen, dennoch aber nicht die Gabe besitzen, andere Menschen wirklich bedingungslos zu lieben. Auch Lehrerinnen und Lehrer, die sich jahrelang an einer pädagogischen Hochschule ausbilden liessen und jeden noch so kleinen Schritt innerhalb ihrer Lektionsvorbereitungen, wissenschaftlich exakt, didaktisch begründen können, aber dem erstbesten Schüler, der sich nicht an die von ihnen vorgegebenen Regeln hält, zu verstehen geben, dass sie ihn halt schon ein bisschen weniger gut mögen als die anderen, die schön brav und fleissig sind. Und auch Eltern, die auf jeder noch so kleinen “Unzulänglichkeit” ihrer Kinder herumhacken und ihnen nie ganz einfach unendlich viel Dankbarkeit dafür entgegenbringen, dass sie so wunderbare Wesen sind, von denen es jedes Einzelne nur ein einziges Mal auf dieser Erde gibt. Einen Menschen bedingungslos lieben, und darum geht es, bedeutet eben, auch seine scheinbaren “Fehler”, “Schwächen” oder “Unzulänglichkeiten” zu lieben, die ja alle Teil seiner gesamten Persönlichkeit sind.
Doch woher die Liebe holen, wenn sie nicht da ist? Das, denke ich, ist ganz einfach. Denn jeder Mensch hat sie als das grösste Geschenk, das man sich nur vorstellen kann, schon vor seiner Geburt mitbekommen. Es geht nicht darum, etwas künstlich zu schaffen, was noch nicht da wäre, da nützen auch die besten Universitäten nichts. Es geht ganz einfach bloss darum, das, was schon da ist, nicht zu verlieren. “Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben”, sagt der italienische Dichter Dante Alighieri, “Blumen, Sterne und Kinder”. Wenn wir uns dessen bewusst sind und lebenslang aus dem Paradies geborene Kinder bleiben, dann bleibt auch die Liebe in uns erhalten. Und dann, wenn auch Charlotte und alle anderen traurigen Kinder und Jugendlichen von dieser Liebe umgeben sind, brauchen sie nie mehr in eine Psychotherapiestunde mit Pfeilen, Figürchen und Kreislein zu gehen und können dennoch zu gesunden und glücklichen Menschen heranwachsen.