Von der Lohnpyramide zum Einheitslohn: ein längst fälliger Schritt zur Gleichberechtigung in der Berufswelt

 

Unsere Gesellschaft gleicht einer Pyramide. Zuunterst sind die vielen Unentbehrlichen, die das System tragen, dann von Stufe zu Stufe wird die Last leichter. Die Entlöhnung folgt aber gerade einem umgekehrten Schema. Je weniger systemrelevant, desto besser bezahlt. Hedge-Funds-Manager, Anwälte, Werbefachleute sind nicht systemrelevant, aber oft Spitzenverdiener…

(Paul Widmer, Publizist, in: NZZ am Sonntag, 13. September 2020)

 

Eine geradezu revolutionäre Aussage, und dies mitten in der NZZ am Sonntag! Konkret würde das bedeuten, dass ein Bauarbeiter oder eine Krankenpflegerin eigentlich mehr verdienen müssten als der CEO eines multinationalen Konzerns oder eine Rechtsanwältin. Man könnte aber auch ein bisschen weniger weit gehen und den Blick auf die gesamte Gesellschaft und die gesamte Arbeitswelt werfen: Damit eine Gesellschaft als Ganzes funktionieren kann, braucht es eben alle, die Verkäuferin ebenso wie den Erntehelfer, die Köchin und den Stadtpräsidenten, die Lehrerin ebenso wie den Zahnarzt, die Physiotherapeutin und den Unternehmer, die Putzfrau ebenso wie den Fahrradmechaniker, den Psychotherapeuten und die Coiffeuse. Man kann nun tausend Gründe ins Feld führen, weshalb der eine mehr oder weniger viel verdienen sollte als die andere. Das versperrt nur den Blick auf die Tatsache, dass für das Funktionieren des Ganzen eben sämtliche Berufe unentbehrlich sind und das ganze Gebäude augenblicklich in sich zusammenbrechen würde, wollte man auch nur einen von ihnen weglassen. Deshalb besteht das einzige wirklich hieb- und stichfeste Postulat darin, dass sämtliche Berufstätige genau gleich viel verdienen müssten, denn jeder und jede gibt ja auf ihrem jeweiligen Arbeitsgebiet das in ihren Kräften Stehende Beste zum Gelingen des Ganzen. Ein Einheitslohn also. Dieser würde in der Schweiz gegenwärtig bei rund 6500 Franken liegen. Man stelle sich das einmal vor: Für all jene, die sich heute mit Löhnen von 4000 Franken oder noch weniger zufriedengeben müssen, wäre es das Paradies. Und für all jene, die heute mehr als 6500 Franken verdienen, wäre es zwar eine mehr oder weniger staatliche Lohneinbusse, mit der sie aber dennoch gut leben könnten, auch wenn sie auf das eine oder andere verzichten müssten. Der gleiche Lohn würde zugleich bedeuten, dass auch das gesellschaftliche Ansehen sämtlicher Berufe den gleichen Stellenwert hätte, niemand mehr auf andere hinunter- oder hinaufschauen müsste und so etwas wie Berufskarrieren bloss um des Geldes willen der Vergangenheit angehören würden: Nicht mehr das Geld, sondern die Freude, die Begeisterung und die Leidenschaft für eine bestimmte Tätigkeit wären die Schlüssel dazu, genau diesen und nicht einen anderen Beruf auszuüben. Und vor allem: Nicht nur das Geld auf dem Lohnkonto würde stimmen, sondern vor allem auch die persönliche Zufriedenheit, das allgemeine Wohlbefinden und die gegenseitige Wertschätzung.