Von der “Kriegspolitik” zur “Friedenspolitik”: Glücklicherweise gibt es noch Menschen, die von einer anderen Welt träumen

In der Diskussionssendung “Arena” des Schweizer Fernsehens SRF1 vom 12. Januar 2024 wurde schwerpunktmässig über die zukünftige schweizerische “Sicherheitspolitik” diskutiert. Eingeladen war, nebst den Parteispitzen der Bundesratsparteien, auch Bundesrätin Viola Amherd, die Vorsteherin des VBS, des Bundesamts für “Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport”, die Chefin jenes Ministeriums also, das in den meisten Ländern als “Verteidigungsministerium” bezeichnet wird. Dementsprechend ging es dann in der Diskussion fast ausschliesslich um Fragen militärpolitischer Natur: Ob der für die Schweizer Armee vorgesehene Prozentsatz der jährlichen Bundesausgaben für die Aufrechterhaltung der “Sicherheit” in einer “schwieriger gewordenen Zeit” immer noch genüge, ob es für die Gewährleistung der “Sicherheit” vor allem eine möglichst grosse Anzahl von Panzern oder Kampfflugzeugen brauche oder doch eher mehr Investitionen in die “Cybersicherheit”, ob die Schweiz stärker als bisher mit der Nato zusammenarbeiten oder doch eher auf ihrem “neutralen” Status beharren müsste, und so weiter…

Ich sehe die dem Erdboden gleichgemachten Wohnquartiere im Gazastreifen und die Menschen, die zwischen den Trümmern verzweifelt nach Verschütteten suchen. Ich höre die Schreie der Kinder, die, mangels Medikamenten, in palästinensischen Spitälern ohne Narkose operiert werden müssen. Und auch die verzweifelten und angstvollen Gesichter ukrainischer und russischer Soldaten in den Schützengräben der Ostukraine bei Temperaturen von bis zu minus 15 Grad gehen mir nicht aus dem Kopf. Von alledem war während der eineinhalb Stunden Arena-Diskussion in behaglicher Atmosphäre nicht annähernd etwas zu spüren.

Müsste man nicht endlich damit aufhören, über die “optimale” Vorbereitung auf einen möglichen zukünftigen Krieg zu diskutieren, und sich stattdessen voll und ganz auf die Frage konzentrieren, wie Kriege als so ziemlich das Absurdeste, was Menschen sich gegenseitig antun können, für immer aus der Welt zu schaffen wären? Um “Sicherheit” nicht mehr bloss als etwas zu verstehen, was sich ein einzelnes Land gegenüber anderen Ländern sichern bzw. sich leisten kann, sondern als etwas, was für alle gleichermassen und jederzeit Gültigkeit haben muss. Als etwas, was erst dann endgültig Wirklichkeit wäre, wenn es keinen einzigen Krieg mehr gäbe und niemand mehr vor irgendwem Angst haben müsste. Als etwas, was allen nur Vorteile brächte und niemandem einen Nachteil.

Was für eine wunderbare Chance böte sich damit doch gerade der Schweiz, diesem Mikrokosmos gelebter direkter Demokratie, eines ausgeklügelten föderalistischen Staatssystems, strikter Neutralität, friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Sprachen, so langer humanitärer Tradition und so vielfältiger Erfahrungen im Bereich von Mediation, Diplomatie, Völkerverständigung und Konfliktlösung durch Kompromisse. Es kann doch nicht sein, dass alle diese Errungenschaften ausgerechnet in einer Zeit, da sie dringender gefragt wären denn je, nach und nach unter den Tisch gewischt werden und sich die Schweiz immer stärker einem globalen Mainstream anzupassen beginnt, mit dem an allen Ecken und Enden auch noch die verrücktesten Feindbilder aufgebaut und noch die verrücktesten Argumente hergeholt werden, um militärische Aufrüstung und das Führen “guter” Kriege zu rechtfertigen. Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt genug Negatives, was man der Schweiz vorwerfen könnte, ihre oft fragwürdige Rolle als globaler Finanzplatz zum Beispiel, ihren Anteil an kolonialer Ausbeutung bis in die Gegenwart, ihre oft menschenfeindliche Haltung gegenüber Ausländerinnen und Ausländern, die einerseits ökonomisch ausgebeutet, gleichzeitig aber in vielerlei Hinsicht diskriminiert werden, und noch vieles mehr. Aber das sollte uns nicht die Augen vor dem riesigen Potenzial verschliessen, mit dem die Schweiz eine noch viel aktivere und mutigere Rolle bei der internationalen Konfliktlösung und Friedensförderung spielen könnte, als sie dies bis anhin getan hat.

Kriege kann man nicht abschaffen, indem man sie, einfach gesagt, verbietet. Es geht vielmehr darum, weltweit so gute Voraussetzungen für die Lebensbedingungen der Menschen wie auch für das Zusammenleben von Völkern und Staaten zu schaffen, dass Kriege eines Tages sozusagen überflüssig werden und immer die schlechteste aller möglichen Alternativen wären. Und da ist an allen Ecken und Enden Handlungsbedarf. Es geht zum Beispiel um eine gerechte Verteilung der Ressourcen, um soziale Gerechtigkeit, um die Bekämpfung von Armut und Hunger, um den Kampf gegen Umweltzerstörung, Ressourcenverschleiss und Klimawandel, um die Förderung von Selbstbestimmung und Basisdemokratie und die Überwindung von ausbeuterischen, patriarchalen, rassistischen Machtstrukturen und imperialen Grossmachtphantasien, aber etwa auch um Völkerverständigung durch möglichst viele zwischenmenschliche Begegnungen und gemeinsame länderübergreifende Kulturprojekte sowie eine dringend notwendige Stärkung der UNO, die bei der Lösung von Konflikten zwischen Staaten oder Völkern eine viel aktivere und bestimmendere Rolle übernehmen müsste. Auch könnte sich die Schweiz für eine Wiederbelebung und für ein Wiedererstarken der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) einsetzen, eine Organisation, in der sich vor noch nicht allzu langer Zeit Schweizer Diplomaten und Diplomatinnen wie Thomas Greminger, Heidi Grau, Tim Guldimann, Peter Burkhard, Gerard Stoudmann und Heidi Tagliavini überaus erfolgreich engagiert haben. Auf allen diesen Gebieten könnte die Schweiz wertvolle Arbeit leisten. Denn so wie Kriege nicht eines Tages vom Himmel fallen, sondern oft über lange Zeit hinweg vorbereitet und vorangetrieben werden, so entsteht eben auch der Frieden nicht von selber, sondern setzt voraus, dass sich möglichst viele Menschen an möglichst vielen verschiedenen Orten auf vielfältigste Weise beharrlich dafür einsetzen. Ziehen politische Kräfte einseitig in Richtung von Krieg und dem Aufbau von Feindbildern, so müssen umso mehr andere politische Kräfte in die entgegengesetzte Richtung ziehen.

Dies ist dringend nötig. Denn zu vieles läuft heute in die falsche Richtung. Jüngstes Beispiel sind die polnische, die finnische, die schwedische und die Regierungen der baltischen Staaten, die ihren Bürgerinnen und Bürgern einzureden versuchen, Putin könnte ihre Länder schon bald im Visier haben, um seine Macht weiter nach Westen auszudehnen. Und dies, obwohl es hierfür keinen einzigen konkreten Anhaltspunkt gibt. Im Gegenteil. Wer sich nur ein wenig um Hintergrundinformationen bemüht, weiss, dass Putin im Dezember 2021 der US-Regierung einen Vorschlag unterbreitete, den Ukrainekonflikt friedlich beizulegen, ein Vorschlag, der allerdings von den USA zurückgewiesen wurde, aber deutlich zeigt, dass der militärische Angriff auf die Ukraine nicht Putins erste Option gewesen war. Man kann Feindbilder und Kriege eben auch herbeireden – die Geister, die man ruft -, was zugegebenermassen freilich nie nur für die eine oder andere Seite zutrifft, aber eine Gewaltspirale in Gang zu setzen droht, durch welche dann aus gegenseitigem Drohen und gegenseitiger Angst im schlimmsten Fall ein Krieg entstehen kann, den im Grunde eigentlich gar niemand wollte. Aber ebenso wie den Krieg kann man auch – durch den Abbau von Feindbildern – den Frieden “herbeireden”, und genau dies ist deshalb umso wichtiger.

Im Verlaufe der Arena-Diskussion erinnerte SVP-Präsident Marco Chiesa daran, dass die SP in ihrem Parteiprogramm immer noch die Abschaffung der Armee fordere – ein Anliegen, dem in der Volksabstimmung vom 26. November 1989 immerhin über 35 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer zustimmten. Chiesa bezeichnete die SP-Copräsidentin Mattea Meyer, bezugnehmend auf den Pazifismus der SP, als “Träumerin”. Was für ein Kompliment! In einer Welt voller Hass, Gewalt und Krieg gibt es nichts Wichtigeres als Menschen, die von einer Welt ohne Hass, Gewalt und Krieg träumen. Denn nur wenn man sich etwas anderes vorstellen kann, besteht die Chance, dass dieses andere auch tatsächlich eines Tages Wirklichkeit werden kann.