Von den schweizerischen Busfahrern bis zu den Textilarbeiterinnen in Bangladesch: Die Maxime, dass die Interessen des Kapitals wichtiger sind als die Bedürfnisse der Menschen…

 

Gemäss einer Umfrage des universitären Zentrums für Allgemeinmedizin und öffentliche Gesundheit Université in Lausanne bei fast 1000 Busfahrerinnen und Busfahrern beklagen sich 57 Prozent der Befragten über Schmerzen in den Schultern oder im Nacken. Die Hälfte gibt an, an abnormaler Müdigkeit zu leiden. Ebenfalls jeder zweite Befragte leidet unter Rückenschmerzen. 43 Prozent leiden unter Schlafstörungen, 42 Prozent unter Stress und jeder Dritte unter Kopfschmerzen. Viele beklagen sich über den Druck, der von Vorgesetzten ausgeübt werde: Will man sich aus gesundheitlichen Gründen abmelden, bekomme man meistens zur Antwort, man müsste trotzdem zur Arbeit kommen. Viele Busfahrerinnen und Busfahrer nehmen Medikamente und beissen sich durch, auch deshalb, weil sie wissen, dass sonst jemand einspringen müsste, der eigentlich frei hat. Wegen der aus finanziellen Gründen eng getakteten Fahrpläne genügt schon eine kleine Verspätung, um am Ende der Tour keine Zeit zu haben, um aufzustehen und sich ein wenig die Beine zu vertreten. Eine Mehrheit von 58 Prozent der Befragten gibt denn auch an, Arbeitseinsätze von mehr als zehn Stunden seien sehr belastend. Auch Anzeigen auf Bildschirmen oder akustische Warnsignale bei Verspätung üben auf die Fahrerinnen und Fahrer grossen Druck aus. 

Dies alles ist allerdings alles andere als ein Zufall. Dahinter steckt ein System und dieses System heisst Kapitalismus: Die Maxime, dass der Profit wichtiger ist als die Bedürfnisse der Menschen und dass es deshalb das Ziel sein muss, aus den arbeitenden Menschen in immer kürzerer Zeit eine immer höhere Leistung herauszupressen. Es sind ja bei Weitem nicht nur die Busfahrerinnen und Busfahrer. Es sind auch die Velokuriere, die auf ihre Touren oft Flaschen zum Pinkeln mitnehmen, weil sie zwischen ihren Auftragsfahrten nicht genug Zeit haben, eine Toilette aufzusuchen. Es sind auch die Bauarbeiter und Bauarbeiterinnen, die laufend wachsendem Zeitdruck und laufend schwereren körperlichen Belastungen ausgesetzt sind. Es sind auch die Zimmermädchen in den Hotels, die in immer kürzerer Zeit eine immer höhere Anzahl von Zimmern herzurichten haben. Es ist auch das Pflegepersonal in den Spitälern, es sind die Verkäuferinnen im Supermarkt, die Paketboten der Post und der übrigen Transportunternehmen, die Lastwagenfahrer und Lastwagenfahrerinnen, das Kabinenpersonal in den Flugzeugen, Köche und Kellnerinnen in Hotels und Restaurants – sie alle sind gezwungen, in immer kürzerer Zeit eine immer grössere Leistung zu erbringen. 

Gerne wird dies alles der Coronapandemie in die Schuhe geschoben. Tatsache ist aber, dass die Entwicklung einer zunehmenden Auspressung der Arbeiterschaft schon längstens vor Corona ihren Lauf genommen hat und durch die Folgen der Coronapandemie nur noch zusätzlich verschärft worden ist. Das Römische Reich baute seine Macht über Dutzende von Ländern rund um das Mittelmeer auf der Devise “Divide et impera!” auf: Teile und herrsche! Länder und Völker, die sich gegenseitig bekämpften, konnten dem Imperium nicht gefährlich werden, weil ein gemeinsamer Widerstand gegen die Vorherrschaft Roms dadurch verunmöglicht war. Genau so regiert der Kapitalismus. Busfahrer und Velokurierinnen, Krankenpflegerinnen und Bauarbeiter setzen sich je individuell für ihre Rechte ein, so, als hätte das eine mit dem andern nichts zu tun. Tatsache ist, dass die weltumspannende Macht des Kapitalismus nur gebrochen werden kann, wenn sich auch seine Opfer über alle Berufe, Arbeitsbereiche und alle Grenzen hinweg weltweit miteinander verbünden und solidarisieren. Die kapitalistische Ausbeutung hört ja nicht an irgendwelchen Grenzen auf. Im Gegenteil: Textilarbeiterinnen in Bangladesch, Minenarbeiter im Kongo oder Bananenpflückerinnen in Honduras sind einem noch viel grösseren Ausbeutungsdruck ausgesetzt als schweizerische Busfahrer oder Krankenpflegerinnen. “Was alle angeht, können nur alle lösen”, sagte schon der schweizerische Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt. Wie weise! Wie viele Schmerzen, wie grosses Leiden, wie viele zu Tode erschöpfte Arbeiterinnen und Arbeiter wird es noch brauchen, bis der grosse Widerstand seinen Anfang nimmt und eine Wirtschaftsordnung Wirklichkeit werden kann, in der nicht mehr die Interessen des Profits und des Kapitals an erster Stelle stehen, sondern die Bedürfnisse der Menschen?