Von amerikanischen Salatfeldern bis zur “Stadt der Lerntoten”: Der schon fast vergessene Krieg gegen die Kinder

Sommer 2022 irgendwo in den USA auf einem dieser endlosen Salatfelder, wo immer häufiger auch schon Jugendliche tägliche Schwerstarbeit verrichten. Die 16jährige Mia hat soeben einen Salatkopf gepflückt, als ein Traktor von der Strasse abbiegt und geradewegs ungebremst auf sie zurast, ohne dass sie ihm rechtzeitig auszuweichen vermag. Offensichtlich hat der Fahrer, selber gejagt vom horrenden Arbeitstempo auf dem Feld, Mia übersehen und überrollt sie mit seinem Traktor vom Fuss bis zum Bauch, fährt sodann aus lauter Panik sofort zurück, schaltet falsch und überfährt sie ein zweites Mal. Mit schweren inneren Verletzungen und gebrochenen Beinen bleibt Mia auf der Erde liegen. Doch selbst nach diesem schweren Unfall geht die Arbeit auf dem Feld unvermindert weiter, nicht die kleinste Unterbrechung des Innehaltens, der Betroffenheit und der Anteilnahme können sich die Arbeiterinnen und Arbeiter, die allesamt unter dem gleichen gewaltigen Zeitdruck stehen, leisten – hier, wo sich alle gegenseitig fremd sind und bloss eine Nummer auf der Beschäftigtenliste irgendeines anonymen Arbeitgebers, gibt es sowieso schon längst nicht mehr so etwas wie persönliche oder gar freundschaftliche Beziehungen untereinander, geschweige denn so etwas wie Solidarität oder gar Widerstand gegen dermassen ausbeuterische Arbeitsbedingungen. Die Ärzte im 20 Kilometer entfernten Spital können zwar Mias Leben retten, doch auch ein Jahr später hat sie immer noch heftige Schmerzen in den Beinen, mehrere Monate lang konnte sie fast nicht laufen. Die Firma, für die sie gearbeitet hat, weigert sich bis heute, Mia eine Entschädigung auszurichten.

Weil das Angebot an neuen Jobsuchenden stetig abnimmt, setzen in den USA seit Jahren immer mehr Firmen auf Kinderarbeit. Die Gewerkschaften stehen wieder dort, wo sie bereits vor 140 Jahren standen und müssen noch einmal gegen etwas ankämpfen, was man längst als überwunden glaubte. Sechs der 50 Bundesstaaten haben in den letzten zwei Jahren ihre Regeln für Kinderarbeit gelockert, andere könnten bald folgen. In Iowa dürfen 14- und 15Jährige nach der Schule bis 21 Uhr arbeiten, tägliche Arbeitszeiten von bis zu sechs Stunden zusätzlich zum Schulunterricht sind zulässig, während der Ferien darf sogar bis 23 Uhr gearbeitet werden, 16- und 17Jährige dürfen gleich lange arbeiten wie Erwachsene. In Colorado dürfen Kinder schon ab 12 Jahren in der Landwirtschaft arbeiten. Und auch von gefährlichsten Arbeiten, zum Beispiel auf hohen Baugerüsten oder Dächern, bleiben sie nicht verschont, entsprechend häufig kommt es zu Verletzungen oder sogar zu Todesfällen: Hautverbrennungen in einer Chemiefabrik, Kinder, die mit ihren Händen in Maschinen geraten oder sich bei der Salaternte mit einem Messer schneiden, zwei 16Jährige, die beim Arbeiten in einem Sägewerk und einer Geflügelfabrik ums Leben kamen – dies nur einige wenige Beispiele. Allein in der Landwirtschaft erleiden täglich durchschnittlich 33 Kinder Verletzungen. “Ich erinnere mich an einen Tag im Winter”, so berichtet eine heute 21Jährige, “es schneite sehr heftig, wir haben extrem gefroren, aber wir mussten ohne Pause bis sieben Uhr abends weiterarbeiten.” Ein anderer, heute 24 Jahre alt, erinnert sich, wie er als 14Jähriger die ganzen Sommerferien in der Karottenernte arbeitete, jeden Tag 8 bis 9 Stunden: “Oft gab es selbst an besonders heissen Tagen nicht genug zu trinken und zwischen dem Mittagessen und dem Arbeitsschluss am Abend gab es keine Pause.” Und mit dem Klimawandel wird die Arbeit zunehmend noch anstrengender. Mehr als alle anderen sind in den USA arme Familien sowie Migrantinnen und Migranten von Kinder- und Jugendarbeit betroffen. Während die Kinder bessergestellter Familien nach Schulschluss nachhause gehen, um ihre Freizeit zu geniessen, müssen die ärmeren Kinder zur Arbeit aufs Feld, in die Fabrik oder in eine Imbissbude. “Um 16 Uhr war die Schule fertig”, erzählt ein heute 26Jähriger, “dann gings aufs Feld, ich war immer todmüde und meine Hände und Füsse taten weh.” Immer zahlreicher kommt es auch zu Verstössen gegen geltende Arbeitsgesetze, so zum Beispiel in Form besonders gefährlicher Jobs – so ist die Zahl der entdeckten Verstösse seit 2015 um 280 Prozent gestiegen. Fälle wie jene von zwei Zehnjährigen, die noch um Mitternacht in einem Fastfoodladen arbeiten mussten, sind keine Seltenheit. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs, denn längst nicht alle Verstösse werden aufgedeckt, gibt es doch auf 200’000 Arbeitskräfte nur gerade mal einen einzigen Kontrolleur. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen sind nicht nur gezwungen, ihre Kindheit und ihre Jugendzeit zu opfern, sie müssen auch ihre eigene Zukunft opfern, denn, wie ein Grundschullehrer berichtet: “Immer wieder schlafen meine Schülerinnen und Schüler im Unterricht fast ein. Das hat Auswirkungen auf die Noten, viele fallen so weit zurück, dass sie gar keinen Schulabschluss schaffen.”

Doch Kinder und Jugendliche leiden unter Verletzungen oder sterben nicht nur auf Salatfeldern, in Schlachthöfen und auf gefährlichen Baustellen der USA, sondern auch in zahllosen anderen Ländern weltweit überall dort, wo der ökonomische Druck so gross ist, dass Familien gar nicht existieren könnten, wenn nicht auch ihre Kinder von klein auf einen Teil zum Familieneinkommen beitragen würden. 160 Millionen Kinder und Jugendliche zwischen fünf und 17 Jahren sind weltweit von Kinderarbeit betroffen, jedes Jahr sterben 22’000 Kinder und Jugendliche infolge von Arbeitsunfällen. Besonders schlimm ist die Situation in der Landwirtschaft, wo Kinder oft ganz besonders gefährlichen Situationen ausgesetzt sind: Sie müssen viel zu schwere Lasten tragen, kommen mit gesundheitsschädlichen Chemikalien, tödlichen Insekten und scharfen Werkzeugen in Kontakt und müssen oft über viele Stunden unter extremen Wetterbedingungen arbeiten. Nicht besser ergeht es jenen rund 150 Millionen Mädchen und rund 73 Millionen Jungen unter 18 Jahren – wobei von einer signifikant höheren Dunkelziffer auszugehen ist -, welche weltweit von Kinderprostitution betroffen sind und brutalsten Menschenhändlern über alle Grenzen hinweg hilflos ausgeliefert sind.

Und das ist längst noch nicht alles. Weltweit sterben jeden Tag rund 10’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs, weil sie nicht genug zu essen haben. Daran haben wir uns offensichtlich schon so sehr gewöhnt, dass nie in irgendeiner Zeitung, am Radio und am Fernsehen, wo selbst über drei oder vier Opfer irgendeines verrückten Amokläufers in Japan oder Schweden des Langen und Breiten berichtet wird, auch nur das Geringste zu hören ist. Und dies, obwohl die Ursache für dieses tägliche zehntausendfache Sterben ja nicht darin liegt, dass insgesamt auf der ganzen Welt zu wenige Nahrungsmittel vorhanden wären, sondern einzig und allein nur darin, dass die Profitinteressen multinationaler Konzerne und die unter den Grossen und Mächtigen abgeschlossenen internationalen Handelsabkommen ein so viel höheres Gewicht haben als das Recht aller Kinder über alle Grenzen hinweg auf ein menschenwürdiges Leben.

Über 5000 Kinder sind bereits den israelischen Bombardierungen im Gazastreifen, dem laut Unicef derzeit “gefährlichsten Ort der Welt”, zum Opfer gefallen, dazu kommen Zehntausende Verletzte: Kinder mit entsetzlichen Verbrennungen, Verwundungen durch Mörserangriffe, verlorenen Gliedmassen, ohne Zugang zu Krankenhäusern, Nahrungsmitteln, Wasser, Strom und Medikamenten. Im Sudan sind infolge des seit fünf Monaten tobenden Bürgerkriegs insgesamt 3,4 Millionen Babys und Kleinkinder akut unterernährt. In Jemen, seit fast neun Jahren im Kriegszustand, sind schon weit über zehntausend Kinder gestorben, mehr als 9 Millionen Kinder haben keinen Zugang zu sicherer Wasser-, Sanitär-, Gesundheits- und Hygieneversorgung. “In jedem Krieg”, sagte UNICEF-Sprecher James Elder am 13. Oktober 2023, “sind es die Kinder, die am meisten leiden.” Und die am wenigsten Schuld tragen an allen diesen kriegerischen Konflikten, die ausnahmslos von machtgierigen, skrupellosen, profitsüchtigen, fanatischen und extremistischen männlichen Stammes- und Staatsführen angezettelt worden sind.

Doch Kinder und Jugendliche sind nicht nur die hauptsächlichsten Opfer von Kriegen, Armut, Hunger, Prostitution und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen. An anderen Orten der Welt sind sie auch Opfer eines gnadenlosen, auf unerbittlichen gegenseitigen Konkurrenzkampf ausgerichteten Bildungssystems. Die 18jährige Saloni Awand ist eine von über 70 Millionen indischen Jugendlichen, die jedes Jahr von ihren Eltern für Kursprogramme angemeldet werden, an denen von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern während sechs, oft sieben Tagen pro Woche und bis zu 18 Stunden täglich – sechs Stunden Unterricht und bis zu zwölf Stunden Hausaufgaben – geradezu Unmenschliches abverlangt wird. Am begehrtesten ist ein Ausbildungsplatz in der Stadt Kota, wo sich jährlich rund 300’000 Jugendliche gegenseitig bis aufs Blut bekämpfen, um in den Genuss eines der 700 Plätze an der Eliteuniversität AIIMS zu gelangen, wo ein kostenloses Medizinstudium angeboten wird. Der Druck, der auf den Prüflingen lastet, ist dermassen gross, dass nur etwa ein Zehntel sämtlicher Schülerinnen und Schüler in Kota nicht von psychischen Problemen wie Magersucht, Vereinsamung oder Depressionen betroffen sind. Viele sind sogar so verzweifelt, dass sie ihrem Leben ein Ende setzen: Allein in Kota wurden innerhalb von fünf Jahren 77 Suizide von Jugendlichen registriert, weshalb Kota auch oft als «Stadt der Lerntoten» bezeichnet wird. Wenn die Gescheiterten ohne jegliche Zukunftsperspektive in ihre Dörfer zurückkehren, werden sie nicht selten zur Strafe verprügelt oder von ihrer Familie ausgeschlossen, haben doch ihre Eltern ihr sämtliches Erspartes für den in ihr Kind projizierten Zukunftstraum ausgegeben.

Doch wir müssen gar nicht bis Indien gehen. Auch eine im Herbst 2023 durchgeführte Befragung bei 14Jährigen im schweizerischen Kanton Zürich ergab, dass sich die Hälfte der Mädchen – bei den Knaben lagen die Zahlen ein wenig tiefer – durch die Schule «sehr» oder «ziemlich» gestresst fühlen – sechs Jahre früher waren es noch halb so viele gewesen. Viel Kopfzerbrechen bereiten die Hausaufgaben, für welche die Mädchen bis zu zwei Stunden oder noch mehr pro Tag aufwenden müssen. Die Hälfte der Mädchen hat mindestens einmal pro Woche Kopfschmerzen. Ebenfalls im Vergleich zu früheren Befragungen haben Bauch-,  Rücken- und andere Schmerzen zugenommen. Jedes dritte Mädchen zeigt Hinweise auf eine Angststörung, zahlreiche Befragte fügen sich aus seelischer Not auch Schmerzen zu, beispielsweise mit Ritzen, und rund vier Prozent aller Befragten haben auch schon versucht, sich das Leben zu nehmen.

Spätestens jetzt muss klar geworden sein: Wir sind mitten im Krieg. Es ist der Krieg einer globalen Machtelite gegen die Kinder und gegen die Jugendlichen, gegen die Schwächsten, gegen die, welche sich am wenigsten wehren können und ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert sind. Krieg ist nicht nur in Gaza, Jemen oder dem Sudan. Nicht nur in den vergessenen Hungergebieten Afrikas und auf den Strassen Lateinamerikas, wo schon Neunjährige ihre Körper für ein paar wenige Pesos feilbieten. Krieg ist auch auf amerikanischen Salatfeldern, an indischen Eliteschulen, im immer härteren gegenseitigen Konkurrenzkampf um die gesellschaftlichen Sonnenplätze, in der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich und einer immer drastischeren Zunahme von Kinderarmut, die nicht einmal vor den reichsten Ländern der Welt Halt macht. Krieg ist auch die Vernichtung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen durch eine rücksichtslose Wirtschaftspolitik endloser Profitmaximierung und gnadenloser Ausbeutung von Mensch und Natur durch die heute Herrschenden und Mächtigen.

Dabei sind es doch gerade die Kinder und die Jugendlichen, die, obwohl sie am allermeisten unter Gewalt, Missachtung elementarster Menschenrechte und Kriegen zu leiden haben, dennoch gleichzeitig immer noch die tiefste Sehnsucht nach einer Welt voller Gerechtigkeit, Frieden und Liebe in sich tragen, einer Sehnsucht, die auf so unermesslich grausame Weise weltweit jeden Tag aufs Neue mit Füssen getreten wird. “Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben”, so der italienische Dichter Dante Alighieri, “Kinder, Blumen und Sterne.” Der Frieden wird nicht an dem Tag beginnen, an dem die letzte Kanone abgefeuert sein wird. Der Frieden wird erst dann beginnen, wenn dieses von den Kindern erträumte Paradies über alle Grenzen hinweg Wirklichkeit geworden sein wird.