Von A wie Assange bis Z wie Zensur: Sie kommen nicht mehr mit Uniformen, im Stechschritt und mit Hitlergruss…

Folgende Beobachtungen beziehen sich auf die Printausgabe des schweizerischen “Tagesanzeigers”, mit täglich etwa 320’000 Leserinnen und Lesern immerhin eine der grössten und einflussreichsten Tageszeitungen des Landes. Ich gehe davon aus, dass es bei den meisten anderen westlichen Mainstreammedien nicht viel anders aussieht.

17. Februar 2024: Grosses Bild von Alexei Nawalny auf der Frontseite, “Putin-Widersacher Nawalny ist tot.” Kommentar auf der ersten Seite: “Der Tod Nawalnys hat weltweit Erschütterung ausgelöst.” Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hätte die Nachricht als sehr bedrückend empfunden und für den US-Präsidenten Joe Biden sei sogleich klar gewesen, dass einzig und allein der russische Präsident Wladimir Putin für diesen Tod verantwortlich sei. Über den Tod Nawalnys wird auf zwei weiteren vollen Seiten ausführlich berichtet, unter anderem mit folgenden Worten: “Nawalny konnte bis zuletzt Menschenmassen bewegen wie kein anderer Kremlkritiker. Einst war er von ganz unten gekommen, trat in den 2000er-Jahren als völlig neuer Politikertyp auf den Plan, ein moderner Blogger, der das Internet zu seiner mächtigsten Waffe machte, ein frecher junger Mann, der in Russland schnell beliebt wurde und es immer wieder schaffte, die russische Führung blosszustellen und ihr das Leben schwer zu machen.” Auf Seite drei ein Kommentar der Redaktion: “Putin ist schuld an Nawalnys Tod. Putin hat ihn getötet.” Schlagzeilen zu einem Zeitpunkt, an dem die forensischen Untersuchungen der Todesursache noch nicht einmal begonnen haben.

18. Februar: Ich schicke einen Leserbrief folgenden Inhalts an den “Tagesanzeiger”.

„Putin ist der Mörder” – Diese Schlagzeile ging im Zusammenhang mit dem Tod von Alexei Nawalny blitzschnell durch alle westlichen Medien. Und dies, bevor die forensische Untersuchung der Todesursache überhaupt erst begonnen hatte. Nichts zu lesen war aber darüber, dass Nawalny ein extremer Nationalist und Rassist war. So bezeichnete er Bürgerrechtler als „quasiliberale Wichser“ und Homosexuelle als „Schwuchteln, die weggesperrt gehören“. Die Tschetschenen verglich er mit „Kakerlaken“ und forderte die Bombardierung von Tiflis mit Marschflugkörpern. „Volksgruppen aus dem Kaukasus und Arbeitsmigranten aus südlichen Nachbarländern”, sagte er, “alles, was uns stört, muss man unbeirrt per Deportation entfernen.“ Wegen solcher und ähnlicher Aussagen wurde er denn auch im Jahre 2007 aus der demokratisch-liberalen Jabloko-Partei ausgeschlossen. Zudem wurde ihm 2021 von Amnesty International der Status eines „gewaltlosen politischen Gefangenen“ aberkannt, mit der Begründung, er sei ein „rassistischer und gewalttätiger Schläger“. Zwar widerrief Amnesty International diese Aberkennung später wieder, aber nur unter massivem Druck westlicher Regierungen. Nawalny mag dem Westen bestens als Opfer des russischen Machtsystems und seines Präsidenten Putin dienen. Alles andere aber war er als ein lupenreiner Kämpfer für Freiheit und Demokratie, als den ihn die westlichen Medien darzustellen versuchen. Diese würden sich besser bei der eigenen Nase nehmen und „demokratisch“, nämlich ausgewogen, auch über die Schattenseiten des vermeintlichen Freiheitskämpfers berichten.

19. Februar: Münchner Sicherheitskonferenz mit rund 50 Staatschefinnen und Staatschefs und etwa 100 Ministerinnen und Ministern, dazu Expertinnen und Experten aus aller Welt. “Die Solidarität mit der Ukraine”, schreibt der “Tagesanzeiger”, “verstärkte sich durch die Nachricht vom Tod Nawalnys. Teilnehmende auf den Podien und in kleineren Gesprächsgruppen reagierten bestürzt. Kaum Zweifel gab es daran, dass sich Kremlchef Putin seines Kritikers entledigt und der Welt einmal mehr seine Skrupellosigkeit zur Schau gestellt hatte.” Weiter ist zu lesen, dass die Gefahr einer Ausweitung des Ukrainekriegs durchaus bestehe und es höchste Zeit sei, die bestehende Gefahr zu realisieren. Besser kann es nicht zusammenpassen: Der Heldentod Nawalnys, Putin als Mörder und einen Tag später die Münchner Sicherheitskonferenz mit der Forderung nach weiterer massiver militärischer Aufrüstung des Westens, und dies, obwohl die NATO inklusive USA bereits heute für ihre Armeen 14 Mal mehr ausgibt als Russland und selbst ohne die USA noch das Vierfache.

20. Februar: Für einmal befasst sich der “Tagesanzeiger” heute mit dem Wikileaks-Gründer Julian Assange, über dessen weiteres Schicksal – mögliche Auslieferung an die USA – ein Londoner Gericht in den nächsten Tagen entscheiden wird. Sollte er an die USA ausgeliefert werden, droht ihm eine Gefängnisstrafe von bis zu 175 Jahren. Doch eine Überstellung in ein US-Hochsicherheitsgefängnis würde ihr Mann nicht überleben, befürchtet Assanges Frau Stella. Schon die fünf Jahre Haft in London hätten Julian schwer zugesetzt, mit seiner Gesundheit sei es rapid abwärts gegangen, physisch wie psychisch. Deshalb hatte auch schon vor drei Jahren eine Londoner Richterin die Auslieferung Assanges an die USA unter Hinweis auf die depressive Verfassung des Häftlings verweigert. Es sei zu befürchten, dass er sich in den USA das Leben nehmen würde. Assange, der in den USA als “Terrorist” gilt, hatte 90’000 Berichte geheimer und höchst sensitiver Natur über den US-Krieg in Afghanistan und 400’000 über den Krieg im Irak, 800’000 Berichte über Guantánomo-Gefangene sowie zahlreiche Videos und vertrauliche Depeschen von US-Diplomaten aus aller Welt an die Öffentlichkeit gebracht, die Washington verzweifelt geheim zu halten versucht hatte.

Die Art und Weise, wie der “Tagesanzeiger” die beiden Fälle Assange und Nawalny kommentiert, könnte die Willkür und die Einseitigkeit westlicher Berichterstattung gar nicht drastischer aufzeigen, und dies in einem “demokratischen” und “neutralen”, sich zu Meinungs-, Presse- und Gedankenfreiheit bekennenden Land wie der Schweiz. Wurde Putin augenblicklich nach Nawalnys Tod als Mörder bezeichnet, sucht man eine vergleichbare Bezeichnung für die Hauptverantwortlichen der Inhaftierung Assanges vergeblich und wird eine solche Benennung höchstwahrscheinlich auch dann niemals verwendet werden, sollte sich Assange nach der Auslieferung an die USA tatsächlich das Leben nehmen. Und wird Nawalnys Tod als Folge eines skrupellosen, von Putin angeführten Staats- und Machtsystems dargestellt, das vor keiner noch so bestialischen Unmenschlichkeit zurückschreckt, werden auf der anderen Seite die von den USA begangenen und von Assange aufgedeckten Kriegsverbrechen, der völkerrechtswidrige Angriff auf Afghanistan und den Irak mit Hunderttausenden unschuldigen Opfern und die an Grausamkeit kaum zu überbietenden Folterpraktiken in den US-Militärgefängnissen auch nicht im Entferntesten so klar und unmissverständlich angeprangert wie der russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022.

20. Februar: Gleichentags mit dem Artikel über Julian Assange ist dann natürlich im “Tagesanzeiger” ebenfalls ein weiterer ganzseitiger Bericht über Nawalny mit dem Titel “Er wird Russland schmerzlich fehlen” zu finden, verfasst von Viktor Jerofejew, der gemäss biografischer Notiz als der “grösste lebende russische Schriftsteller” gelten soll. Darin wird Nawalny als “mächtige historische Figur” beschrieben, “zu deren Ehren man mit der Zeit Strassen, Prospekte, Universitäten, vielleicht sogar Städte benennen wird. So eine sprühende, energische Persönlichkeit, die dem ganzen System staatlicher Macht praktisch allein Paroli bietet. Ein schöner junger Mann, Ehemann einer der gemeinsamen Sache treu ergebenen schönen Frau, Vater zweier schöner Kinder, voll von originellen Einfällen und Sinn für Humor.”

21. Februar: Da mein Leserbrief im “Tagesanzeiger” bis heute nicht veröffentlicht wurde und auch kein einziger anderer, der sich mit Nawalny und der von seinem Tod ausgelösten westlichen Kriegseuphorie kritisch auseinandergesetzt hätte – dafür jede Menge Leserbriefe über die Initiative für eine 13. AHV-Initiative, Toilettenanlagen im Zürcher Stadtzentrum, Pistenverlängerung auf dem Flughafen Kloten, öffentliche Zugänglichkeit von Flussufern oder Rückgang der Anzahl Studierender im Fach Geschichte an den Universitäten -, schreibe ich folgende Email an die Redaktion der Leserbriefseite des “Tagesanzeigers”.

Die bisherige Berichterstattung zum Thema Nawalny befasst sich ausschliesslich mit der Rolle Nawalnys als Widersacher von Putin. Mit keiner Silbe ist bisher über die „dunkle“ Vergangenheit Nawalnys berichtet worden. Im Sinne einer ausgewogenen Informationspolitik würde ich es sehr begrüssen, wenn Sie meinen Leserbrief oder einen anderen, der diese Thematik aufwirft, so bald wie möglich veröffentlichen würden. Die Meinungsbildung ist nämlich in vollem Gang.

23. Februar: Die “Weltwoche” berichtet, dass aufgrund einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie 72 Prozent der ukrainischen Bevölkerung den Krieg gegenüber Russland durch Verhandlungen zu einem Ende bringen möchten. Eine Meldung, die ich im “Tagesanzeiger” vergeblich suche. Vermutlich passt sie zu wenig in die scheinbar geschlossene und übereinstimmende Meinung der westlichen Regierungen, die Ukraine müsse diesen Krieg um jeden Preis “gewinnen”. Stattdessen erfahren wir im heutigen “Tagesanzeiger”, dass Nawalny bei einem Besuch in der Schweiz im Spätherbst 2020 zur Verblüffung des 81jährigen Franz Stadelmann bewiesen hätte, dass er sogar jodeln könne. Weiter erfahren wir, dass dieser Franz Stadelmann sogar mit Nawalny Wildschweine jagen gegangen sei, doch die Polizisten, welche die beiden begleiteten, hätten beim Durchkämmen des Waldes sämtliche Wildschweine verscheucht.

26. Februar: Die “Berliner Zeitung” vermeldet erste Ergebnisse der forensischen Untersuchungen zur Todesursache Nawalnys und zitiert Kyrylo Budanow, Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, mit folgenden Worten: „Es tut mir leid, aber alles, was wir wissen, ist, dass Alexej Nawalny infolge eines Blutgerinnsels eines natürlichen Todes gestorben ist.“ Auch diese Meldung findet nicht den Weg bis zum “Tagesanzeiger”, würde sie doch höchstwahrscheinlich die bisher aufgebaute Geschichte allzu sehr ins Wanken bringen.

28. Februar: Die “New York Times” berichtet, dass der US-Geheimdienst CIA seit 2014 in der Ukraine zwölf geheime Spionagebasen entlang der russischen Grenze aufgebaut hätte, die als “Nervenzentrum” der ukrainischen Militärs agieren. Diese Basisstationen seien in der Lage, russische Spionagesatelliten aufzuspüren und die Kommunikation zwischen russischen Kommandeuren zu belauschen. Zudem sei enthüllt worden, dass die CIA über acht Jahre hinweg in unterirdischen Bunkern, tief verborgen in ukrainischen Wäldern, ukrainische Geheimdienstoffiziere ausgebildet und ausgerüstet hat. Dass auch diese Nachricht nicht im “Tagesanzeiger” erscheint, verwundert nun nach allem anderen freilich überhaupt nicht mehr. Dafür lesen wir in der heutigen Ausgabe des “Tagesanzeigers”, dass der französische Präsident Emmanuel Macron anlässlich eines “Ukrainegipfels” in Paris sagte, es gäbe zurzeit innerhalb der NATO-Staaten noch keinen Konsens über die Entsendung von westlichen Bodentruppen in die Ukraine, aber in Zukunft könne man “nichts ausschliessen”.

2. März: Der “Tagesanzeiger” veröffentlicht ein ganzseitiges Interview mit John Bolton, dem früheren Sicherheitsberater Donald Trumps, in dem dieser der Schweiz nahelegt, ihre Neutralität zu überdenken, nachdem nun auch Schweden und Finnland der NATO beigetreten seien. Die Schweiz habe lange Erfolg gehabt, doch die Zeiten hätten sich geändert. Alle europäischen Länder müssten sich der Bedrohung durch Russland bewusst werden und mehr in die Sicherheit investieren. Er gratuliere allen, die bereits zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts für ihr Verteidigungsbudget ausgäben, aber es dürfte auch gerne “doppelt so viel sein.”

2. März: Bis heute ist mein Leserbrief, den ich vor zwei Wochen an den “Tagesanzeiger” schickte, nicht erschienen. Und auch kein einziger anderer, der sich mit diesem Thema kritisch auseinandergesetzt hätte. Nichts über die dunklen Seiten Nawalnys. Nichts über die Blindheit gegenüber der westlichen Macht-, Droh- und Aufrüstungspolitik. Nichts darüber, dass Putin in seinem zweistündigen Interview mit Tucker Carlson eine Friedensvision für die Ukraine und Russland in Aussicht gestellt hatte. Nichts darüber, dass man, wenn man den politischen Gegner immer mehr in die Ecke zu drängen versucht, ihn mit der Zeit so sehr provozieren könnte, dass ein gefährlicher Gegenschlag immer wahrscheinlicher wird. Nichts darüber, dass man Kriege förmlich herbeireden kann, wenn man von gar nichts anderem mehr spricht. Nichts darüber, dass künstlich aufgebauschte und geschürte Feindbilder meist nichts anderes sind als Projektionen der eigenen Machtgier auf den vermeintlichen politischen Gegner. Nichts darüber, dass Frieden nie durch Gewalt oder Krieg, sondern nur durch gegenseitiges Vertrauen geschaffen werden kann. Nichts darüber, dass das, was die Menschen weltweit miteinander verbindet, so viel grösser ist als alles, was sie voneinander trennt. Nichts darüber, dass Kriege grundsätzlich nicht gewinnbar sind und am Ende auf beiden Seiten immer nur Verlierer zurückbleiben. Nichts über die Verflechtungen zwischen Regierungen und der Rüstungsindustrie und nichts darüber, dass US-Aussenminister Blinken unlängst sagte, der Ukrainekrieg sei gut für die USA, weil er so viele Arbeitsplätze schaffe. Nichts darüber, was man mit den 2,2 Billionen Dollar, die jährlich weltweit völlig sinnlos für militärische Aufrüstung verschleudert werden, soviel Sinnvolleres und Nützlicheres anstellen könnte. Nichts darüber, dass nicht der Pazifismus aus der Zeit gefallen ist, sondern einzig und allein der ewiggestrige Irrglaube, Konflikte zwischen Ländern oder Völkern liessen sich auch nur im Entferntesten mit militärischer Gewalt sinnvoll lösen. Ja, und auch auf meine Email an die Redaktion der Leserbriefseite des “Tagesanzeigers” habe ich bis heute keine Antwort bekommen.

“Die moderne Diktatur”, sagte Gore Vidal, ein US-amerikanischer Schriftsteller, “kommt nicht mit braunen und schwarzen Uniformen daher. Wir machen das mit Unterhaltung, mit Fernsehen, mit Spass und Unterhaltung.” Und auch der italienische Wissenschaftler und Schriftsteller Umberto Eco erkannte, dass der “Faschismus von heute” äusserlich “nichts zu tun hat mit dem aus der Vergangenheit. Keine Uniformen, kein Stechschritt und kein erhobener Gruss. Nein, er ist modern, raffiniert verpackt und wird mit viel Propaganda verkauft. Aber der Geist, der dahinter steckt, die totale Kontrolle und Ausbeutung, die Zensur, die Mediengleichschaltung und die Unterdrückung der freien Meinungsäusserung sind immer noch dieselben.” Mit anderen Worten: Die moderne Diktatur kommt in der Art und Weise daher, dass wir meinen, es sei eine Demokratie…