Vom ESC bis zu Wimbledon: Je stärker und mächtiger sich die einen fühlen, umso grösser ist die Verbitterung bei den anderen

 

Beim wohl politischsten Eurovision Song Contest aller Zeiten, der heute Abend vor 200 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern über die Bühne gehen wird, steht der Sieger für einmal schon vor der Präsentation der Songs im Finale fest. Es ist, wie könnte es anders sein, die Ukraine. Musikexpertinnen und Musikexperten räumen ein, dass dies nichts mit der musikalischen Qualität des ukrainischen Beitrags zu tun habe, es handle sich letztlich um nichts anderes als eine politische Frage. In dieser geteilten Welt, in der wir mittlerweile leben, geht es schon längst nicht mehr darum, künstlerische, wirtschaftliche oder sportliche Leistungen differenziert und objektiv wahrzunehmen. Es geht nur noch darum, wer es ist, der die jeweilige Leistung erbringt, ob es die “guten” Menschen aus dem Westen sind oder die “bösen” aus dem Osten. Scheibe um Scheibe ist Russland durch eine immer rigorosere Sanktionspolitik des Westens das Wasser abgegraben worden. Da sind politische Sanktionen wie etwa der von der UNO-Vollversammlung beschlossene Ausschluss Russlands aus dem internationalen Menschenrechtsrat. Dann aber auch zahlreiche wirtschaftliche Sanktionen, mit denen die russische Wirtschaft in die Knie gezwungen werden und Oligarchengeld eingefroren werden soll. Ein besonders massviver Schlag wäre der ebenfalls geplante und teilweise schon umgesetzte Ausschluss Russlands aus dem internationalen Bankennetzwerk SWIFT, den Eckhard Cordes, Vertreter Deutschlands im SWIFT-Leitungsausschuss, mit den Worten kommentierte, das würde einen “Rückfall in die Steinzeit” bedeuten. Ja, es ist ein umfassender Keulenschlag in alle Richtungen und er trifft auch all jene, denen man am Ukrainekrieg nicht die geringste Schuld anlasten kann: Opernsängerinnen, Schauspieler, Autorinnen und Zirkusartisten, denen einzig und allein wegen ihrer russischen Nationalität ein Auftritt im Westens untersagst wird. Schier endlos ist auch Liste russischer Sportverbände, die von einer Teilnahme an internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen worden sind: Ausschluss der russischen Fussballnationalmannschaft von der WM in Katar durch die Fifa, Ausschluss russischer Fahrer von einzelnen Formel-1-Rennen, Ausschluss der russischen Premierliga durch die Vereinigung der europäischen Profiligen, Ausschluss Russlands und Weissrundlands von den Paralympics, Ausschluss Weissrundlands und Russlands von der Eishockey-WM, Absage der geplanten U-20-WM in Nowosibirsk, Übernahme sämtlicher Sanktionen  anderer Sportverbände durch die den Leichtathletik-Weltverband World Athletics, Ausschluss sämtlicher weissrussischen und russischen Sportlerinnen und Sportlern aus den Wettkämpfen im alpinen Skisport durch die FIS, Absage sämtlicher Pferdesportturniere in Russland. Dass selbst zaghafte Versuche, diesem Irrsinn ein wenig Menschlichkeit entgegen zu setzen, niedergetreten werden, zeigt folgendes Beispiel: Als bekannt wurde, dass russische und weissrussische Sportlerinnen und Sportler, die am Wimbledonturnier im Juli 2022 hätten teilnehmen wollen, von der Teilnahme hätten ausgeschlossen werden sollen, schlug der Russe Andrej Rublew vor, dass die betroffenen Spielerinnen und Spieler eine Erklärung unterschreiben könnten, wonach sie sich öffentlich gegen den Krieg stellten. Das gewonnene Preisgeld wolle man dann spenden und für die notleidende Bevölkerung der Ukraine zur Verfügung stellen. Zahlreiche Landsleute wollten diese Initiative unterstützen. Aber nicht einmal davon liessen sich die Verantwortlichen erweichen und hielten an ihrem Entscheid fest. Noch zwei Gedanken. Erstens: Überprüfen all jene, welche solche Massnahmen von den Wirtschaftsboykotten bis hin zum Ausschluss russischer Sportlerinnen und Sportler aus internationalen Wettkämpfen verhängen, wohl gelegentlich auch die Wirksamkeit der von ihnen getroffenen Massnahmen? Was haben die Massnahmen bis jetzt tatsächlich bewirkt? Hat die Kriegspolitik Putins eine andere Richtung genommen, wenn die Massnahmen nicht getroffen worden wären? Oder ist es nicht vielmehr so, wie es der “Tagesanzeiger” jüngst kurz und klar auf dem Punkt brachte: “Sanktionen sind wie eine Naturkatastrophe. Sie treffen vor allem die Benachteiligten.” Und der zweite Gedanke: Versetzen wir uns ins Jahr 2003. Die USA überfallen in eklatanter Missachtung des internationalen Völkerrechts den Irak. Es beginnt ein Krieg, der bis zuletzt über eine halbe Million Todesopfer fordern sollte – eine Zahl, welche die aktuellen Opferzahlen in der Ukraine um ein Vielfaches übertrifft. Dachte man damals auch darin, die USA mit Wirtschaftssanktionen zu belegen, amerikanische Popstars und Sportlerinnen und Sportler von internationalen Auftritten, Anlässen und Wettkämpfen auszuschliessen? Oder wäre gar jemand auf die Idee gekommen, Präsident George W. Bush müsste vor ein internationales Kriegsverbrechertribunal gestellt werden? Je stärker wir – der Westen – uns fühlen, je selbstverständlicher wir diese verzerrte Welt, deren unauflöslicher Teil wir schon längst geworden sind, wahrnehmen, umso grösser wird die Verbitterung auf der anderen Seite sein. Ich denke nicht in erster Linie an Putin. Ich denke an die russische Sängerin, die heute liebend gerne am ESC aufgetreten wäre. Ich denke an den Tennisspieler Rublew, der mit seiner intelligenten und mutigen Tat die Teilnahme seines Teams am Wimbledonturnier zu retten versuchte. Und ich denke an die Abermillionen von Russinnen und Russen, die kein bisschen “bösere” Menschen sind als wir hier im Westen und die doch unendlich darunter leiden, dass mit so tiefen Gräben diese Welt so gespalten ist. Wenn wir – der Westen – dem russischen Kriegszug etwas Wirkungsvolles entgegensetzen wollen, dann darf dieses Wirkungsvolle nicht einzig und allein darin liegen, dem Krieg mit Krieg, der Gewalt mit Gewalt zu begegnen. Wir verstehen uns doch als Hüter der Freiheit, der Demokratie, der Gerechtigkeit, der Menschenwürde. Alle diese Werte geraten aber unter die Räder, wenn wir alles auf die einzige Karte der brachialen Gewalt setzen. Wir dürfen Putin nicht kopieren. Wir müssen ihm etwas Besseres entgegenstellen, die Idee der Völkerverständigung, der friedlichen und gewaltlosen Konfliktlösung, des Aufbaus von Vertrauen anstelle von Misstrauen. Verharren wir im reinen “Kriegsmodus”, rückt eine friedliche Lösung in immer weitere Ferne.

„Bitte vergesst nicht, dass
Russland nicht Putin ist”, diese Worte einer jungen Übersetzerin aus Moskau kommen mir immer und immer wieder in den Sinn, “viele junge Menschen wollen nichts mit ihm und seinem
Krieg zu tun haben. Wir dürfen nicht in die Rhetorik des Hasses verfallen. Wenn
wir den Hass wählen, haben die Bastarde dieser Welt gewonnen. Macht Russland
nicht zu eurem Feind.“ So einfache und zugleich klare Worte einer jungen Übersetzerin auf der anderen Seite jenes Grabens, den wir geschaufelt haben und der immer  noch tiefer zu werden scheint. Was könnten die Grossen dieser Welt von diesen wenigen Worten lernen!