Vom 11. September 2001 über den 24. Februar 2022 bis zum 7. Oktober 2023: Als hätte an einem einzigen Tag die ganze Weltgeschichte neu angefangen

Zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse hätte, wie der “Spiegel” am 18. Oktober 2023 berichtete, Slavoj Žižek, Philosoph aus dem Gastland Slowenien, mit seiner Eröffnungsrede zum Nahostkonflikt grosse Empörung ausgelöst. Žižek hätte zwar die terroristischen Angriffe der Hamas auf die israelische Bevölkerung klar verurteilt, dann aber betont, man müsste auch den Palästinensern zuhören und deren Hintergrund beachten, wenn man den Konflikt verstehen wolle. Hierauf hätten einige Gäste den Saal verlassen. Der hessische Antisemitismusbeauftragte Uwe Becker hätte Žižek vorgeworfen, die Verbrechen der Hamas zu relativieren, hätte dann ebenfalls den Saal verlassen, sei aber wieder in Begleitung von Frankfurter Lokalpolitikern zurückgekehrt. Becker hätte im Anschluss an die Veranstaltung der Deutschen Presse-Agentur gesagt, man könne über alles sprechen, auch über die Rechte und das Leid der Palästinenser, aber nicht in einer Gleichsetzung und Gleichstellung zu Unrecht und zu massiver Gewalt und Terrorismus. Auch das freie Wort habe dort eine Grenze, wo es in einem Kontext Dinge relativiere, verharmlose und gleichsetze, wo man sie nicht gleichsetzen könne.

Das gleiche Phänomen in der Diskussionssendung “Club” des Schweizer Fernsehens am 17. Oktober. Nur schon beim leisesten Versuch in der Runde, das Geschehene in einen historischen Kontext zu stellen und an das jahrzehntelange Leiden der palästinensischen Bevölkerung zu erinnern, verdreht Jonathan Kreutner, Generalsekretär des schweizerischen israelitischen Gemeindebundes, die Augen und beginnt ganz unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Offensichtlich ist für ihn nur schon das Wort “Kontext” des Teufels. Eindringlich betont er, der Überfall der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung sei in seiner Brutalität, Menschenfeindlichkeit und Einzigartigkeit in nichts mit alledem zu vergleichen, was über Jahrzehnte hinweg im Nahen Osten geschehen sei.

Das ist nicht das einzige Mal, dass das Ausblenden und Verleugnen eines historischen Kontextes so vehement verfochten wird. Auch am 24. Februar 2022, als russische Truppen die Ukraine überfielen, war es so. Wer nur den leisesten Hinweis darauf zu äussern wagte, auch die vom Westen vorangetriebene Osterweiterung der NATO könnte in der Zuspitzung dieses Konflikts eine Rolle gespielt haben, musste sich sogleich alle möglichen Beschimpfungen gefallen lassen und wurde selbst auch dann noch als “Putintroll” oder “Putinversteher” diffamiert, wenn er den Angriff Russlands noch so klar verurteilte. Und nicht anders war es am 11. September 2001, bei den Anschlägen auf das World Trade Center in New York. Sowohl dieses Ereignis wie auch der Überfall Russlands auf die Ukraine und der Angriff der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung wurden von westlicher Seite, verbunden mit der entsprechenden Darstellung in den Medien, als totale Einzelereignisse in den Raum gestellt, die rein gar nichts mit vorangegangenen Geschehnissen zu tun hätten und einzig und allein mit der abgrundtiefen Bösartigkeit, Menschenfeindlichkeit und Zerstörungswut jener zu erklären sei, welche diese Taten verübt hätten. Als hätte die Weltgeschichte in diesen Augenblicken immer wieder beim Nullpunkt noch einmal neu angefangen.

Und weil ja diese Verbrechen angeblich alles Bisherige in den Schatten stellen und sich jeglicher rationaler Erklärung und jedes historischen Kontexts entziehen, ist dann auch, so die logische Schlussfolgerung, ein jedes Mittel recht, um das begangene Unrecht zu sühnen. Im Falle des 11. September 2001 war es der völkerrechtswidrige Krieg der USA zunächst gegen Afghanistan, dann gegen den Irak, alles aufgrund dubioser Mutmassungen und einer gezielten Lügenpropaganda, mit Hunderttausenden unschuldiger Opfer und einem jahrzehntelangen “Krieg gegen den Terrorismus”, der eine unvergleichlich viel höhere Zahl an Terroristen zur Folge hatte, als jemals durch ihn “eliminiert” worden sind. Und im Falle des 7. Oktober 2023 die Bombardierung des Gazastreifens durch die israelische Armee und das Abschneiden der dortigen Zivilbevölkerung von der Versorgung mit Trinkwasser, Nahrungsmitteln, Medikamenten und Strom. Und wiederum Abertausende unschuldiger Opfer, welche die Zahl der vom Überfall der Hamas Betroffenen bereits jetzt um ein Vielfaches übertrifft. Ebenso wie die Zahl der Opfer des Afghanistan- und des Irakkriegs in nichts zu vergleichen ist mit der Zahl der Opfer, welche die Anschläge auf das World Trade gefordert hatten.

Zurück zu Slavoj Žižek. Mit keinem Wort hatte er den Angriff der Hamas auf Israel zu rechtfertigen versucht. Das Einzige, was er tat, war die Aufforderung, auch die Sorgen und die Ängste der palästinensischen Bevölkerung ernst zu nehmen, um den Konflikt besser verstehen zu können. Auf tragische Weise werden in der gegenwärtigen aufgeheizten, polarisierten, von gegenseitigen Feindbildern bestimmten Weltlage immer wieder zwei Dinge miteinander vermischt, die nichts miteinander zu tun haben. Das eine ist der Versuch, Einzelereignisse in einen historischen und gesellschaftspolitischen Zusammenhang zu stellen, um sie besser einordnen zu können. Das andere ist, Gewalt, Verbrechen oder Kriege auf irgendeine Weise zu “rechtfertigen”. Eine Rechtfertigung ist immer falsch, denn Gewalt, Verbrechen oder Kriege lassen sich auch mit den besten Argumenten niemals rechtfertigen. Aber das Erklären, das Hinterfragen, die Zusammenhänge, der Kontext – dies alles ist gerade deshalb um so viel wichtiger, weil es das einzige Mittel ist, um aus vergangenem Unrecht und vergangenen Fehlern zu lernen und nicht immer wieder in die gleiche Falle zu tappen, die letztlich zu nichts anderem führt als zur gegenseitigen Vernichtung bis zum bitteren Ende.

In der “Rundschau” des Schweizer Fernsehens vom 18. Oktober sagt ein etwa zwölfjähriger Palästinenserbub: “Ich sage der Welt, hört endlich mit dem Krieg auf, es reicht, es sind schon viel zu viele gestorben.” Der Bruder des Jungen hat Knochenbrüche, sein Onkel hat zwanzig Stiche am Kopf, sein Vater ist tot. Trotzdem schwört er nicht auf Rache. Was für ein unfassbarer Kontrast zu all den blutrünstigen, rachebeseelten Politikern hüben und drüben aller Fronten, die doch eigentlich dafür verantwortlich sein müssten, eine Welt zu schaffen, in der alle Menschen in Sicherheit und Frieden leben können.