Voice of Germany: Die Absurdität des Wettbewerbs

Von sämtlichen Hobbysängerinnen und Hobbysängern, die sich für den Songcontest “Voice of Germany” 2023 angemeldet hatten, durften 150 an den sogenannten “Blind Auditions” teilnehmen. Ende November kämpfen nun 36 Kandidatinnen und Kandidaten um den Einzug ins Halbfinale, wo noch zwölf von ihnen dabei sein werden, um dann ein letztes Mal gegeneinander anzutreten, bis der Sieger oder die Siegerin des diesjährigen Contests definitiv feststeht.

Noch sitzt sie auf einem der vier Stühle, wo die Gewinnerinnen und Gewinner der ersten Runde vor dem Einzug ins Halbfinale Platz genommen haben. Eben noch hat ihre Engelsstimme, ohne auch nur einen einzigen Misston, die Herzen des Publikums berührt. Doch jetzt stampft ihr Herausforderer mit lauter Stimme und wild gestikulierend über die Bühne, viele im Publikum beginnen zu kreischen, immer mehr haben sich von ihren Sitzen erhoben, klatschen und stampfen begeistert mit. Und schon längst weiss sie, dass es nur noch eine oder zwei Minuten gehen wird, bis sie ihren Sitz räumen und ihrem Herausforderer Platz machen muss, mit zu grosser Wucht ist er aufgefahren, hat von allem Besitz ergriffen, alles Vorherige weggefegt und die Erinnerung an ihre eben noch so leisen, sphärenhaften Töne ausgelöscht. Mit Tränen in den Augen verlässt sie die Bühne, der monatelange Traum, eine weltberühmte Sängerin zu werden, hat sich innerhalb von drei Minuten in Nichts aufgelöst. Strahlend sitzt der Wilde jetzt auf dem Stuhl, wo eben noch der Engel sass. Doch bereits steht die nächste Herausforderin am Mikrofon und das gnadenlose Spiel geht unerbittlich weiter…

Weshalb um alles in der Welt muss es immer Sieger und Verlierer geben? Weshalb müssen 999 Träume platzen, damit am Ende EIN Traum in Erfüllung geht? Wozu all die Tränen, die Enttäuschungen, das gebrochene Selbstvertrauen? Ist es für das TV-Publikum so viel prickelnder, schafft es so viel höhere Einschaltquoten, wenn man die Menschen gegeneinander um Sieg und Niederlage kämpfen lässt, als wenn man sie ganz einfach gemeinsam ein grosses Fest der Talente feiern liesse, das Fest einer unendlichen Vielfalt an Begabungen, die man so wenig miteinander vergleichen kann, wie man auch die Menschen als solche in ihrer Einzigartig ganz und gar nicht miteinander vergleichen kann? Lässt sich das, was der berühmte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi vor über 250 Jahren in Bezug auf die Kinder sagte, nämlich, dass man keines mit einem anderen vergleichen dürfe, sondern stets nur jedes mit sich selber, nicht gleichermassen auf die Erwachsenen zu? Oder haben wir uns an die gesellschaftliche “Normalität” ständigen Bewertens, Messens, Vergleichens und Aufspaltens der Menschen in Gewinner und Verlierer schon so sehr gewöhnt, dass wir sie unbesehen auch in all jenen Lebensbereichen anwenden, wo sie rein gar nichts zu suchen haben?

Ich rede nicht von denen, die nicht gut singen, nicht gut tanzen oder keine schönen Gedichte schreiben können. Wenn jemand nur schiefe Töne hervorbringt, beim Tanzen über seine eigene Beinen stolpert oder Gedichte schreibt, die keine einzige Seele berühren, dann darf man ihm ruhig sagen, dass er sich vielleicht besser andere Wege suchen soll, um herauszufinden, wo seine tatsächlichen Begabungen schlummern. Wenn aber ein Engel singt und jeder Ton durch Mark und Bein geht, dann wurde in diesem Augenblick ein Star geboren und ein Talent entdeckt, das man dann doch nicht mir nichts dir nichts gleich wieder zuschütten darf, bloss weil eine andere Stimme noch ein ganz klein wenig schöner klingt oder ein anderer Song einen Rhythmus hat, der das Publikum viel schneller von den Stühlen zu reissen vermag. Weshalb kann man Talentshows nicht so gestalten, dass es zwar durchaus eine hohe Messlatte geben darf, dass aber, wer diese erreicht, zum Talent erkoren wird und so etwas wie einen “Mastertitel” zugesprochen bekommt, den ihm dann niemand mehr wegnehmen kann. Dann würden, je nach dem Gesamtpotenzial der vorhandenen Begabungen, in der einen dieser Talentshows vielleicht neunzig “Mastertitel” verliehen, in einer anderen vielleicht tatsächlich nur ein einziger. Kein einziger Traum, der auf einer tatsächlichen Begabung beruht, müsste dann platzen, alle, die es verdient haben, könnten sich freuen, alle wären erfolgreich und die alte Geschichte vom Siegen und Verlieren wäre damit endlich überwunden.

Wie absurd, einer einzigen von 150 Stimmen zu Weltruhm zu verhelfen und gleichzeitig 149 Stimmen für immer verstummen zu lassen. Wie wenn du in einen Wald gehen und “Voice of Forest” spielen würdest, alle Vögel des Waldes gegenseitig um die Wette singen liessest, bis am Ende nur noch ein einziger von ihnen übrig geblieben wäre und alle anderen, zu Tode erschöpft, für immer aufgehört hätten, ihre Lieder weiter zu singen. Glücklicherweise kommen Tiere nicht auf so absurde Gedanken…