Veringenstadt, 8. Juni 1680: Kommunistinnen ihrer Zeit

Dies ist das 6. Kapitel aus meinem Buch PRO MEMORIA – EINE ANDERE GESCHICHTE DES KAPITALISMUS, das voraussichtlich Mitte 2025 erscheinen wird. Eine Geschichte der Schattenseiten des Kapitalismus und der Opfer eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das trotz allem immer noch von vielen als die einzige mögliche und alternativlose Art und Weise angesehen wird, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten organisiert werden kann.

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Die 1619 im deutschen Liesen geborene Anna Kramer war in zweiter Ehe mit einem 24 Jahre älteren Mann verheiratet, der sie dermassen grob behandelte, oft verprügelte und sie täglich zusätzlich zur Hausarbeit schwere Feldarbeiten verrichten liess, dass es immer wieder zu heftigen Streitigkeiten kam, selbst auf der Strasse, was Leute in der Nachbarschaft dazu veranlasste, beim städtischen Schultheiss Klage gegen das «Höllenspektakel» einzureichen. Als Ermahnungen, Arrest- und Geldstrafen nichts bewirkten, wandten sich der Schulthess, der Bürgermeister und der Stadtrat an die fürstliche Oberbehörde in Sigmaringen, die aber vorläufig untätig blieb.

Als die häuslichen Streitereien im Laufe der Zeit immer heftiger wurden, verliess Anna des Öftern das Haus und streifte in den benachbarten Orten umher, wo sie kranke Kinder und Frauen besuchte und ihnen mit Kräutern und Heilgetränken zur Genesung verhalf. Dies führte zur Verbreitung von Gerüchten, Anna verfüge über gefährliche Zauberkräfte. Einige behaupteten sogar, wegen ihr eine tödliche Krankheit bekommen zu haben. Anzeigen häuften sich und der Druck auf die Behörden, eine umfassende Untersuchung einzuleiten, wurde immer grösser. Am 15. Juni 1676 fand eine Anhörung sämtlicher Personen statt, die gegen Anna Vorwürfe erhoben hatten. Dabei wurden die bereits bekannten Vorwürfe wiederholt, ohne dass aber stichhaltige Beweise vorgelegt werden konnten. Trotzdem trat niemand für ihre Schuldlosigkeit ein, nicht einmal ihr Mann und der eigene Sohn.

Im April 1680 behauptete Annas nächster Nachbar, der bis anhin stets gesagt hatte, er wisse nichts Unrechtes von ihr, nun auf einmal, Anna hätte seine im März verstorbene Frau und seinen Sohn, der Ende März schwer erkrankt war, verhext. Die Sache ging bis zum Vizekanzler Johannes Kirsinger in Sigmaringen, der schliesslich am 9. Mai kurz nach Mitternacht Anna Kramer festnehmen liess. 

Die Protokolle des Hexenprozesses von Anna Kramer liegen noch heute im Stadtarchiv von Veringenstadt und vermitteln einen erschütternden Einblick in eines der schlimmsten Kapitel in der Geschichte der Menschheit. Diesen Protokollen zufolge begannen die Verhöre am 11. Mai 1680. Am ersten Tag wurde Anna während vier Stunden mit Fragen durchlöchert, mit wem sie wann Kontakt gehabt hätte, ob sie an Gott glaube, ob sie die heiligen Sakramente erhalten hätte und anderes mehr. Ein Stallknecht, der als Zeuge zugegen war, beteuerte, über Anna nur Gutes gehört zu haben, fügte aber hinzu, er hätte, als Anna gefangen genommen worden sei, beim Hauseingang eine Kröte und eine schwarze Katze gesehen.

Am zweiten Verhörtag, dem 15. Mai, wurden zehn Personen, die gegen Anna Anschuldigungen erhoben hatten, befragt. Sie berichteten von allerlei Krankheiten, Beschwerden und seltsamen Vorfällen, die immer dann aufgetreten seien, wenn sie mit Anna Kontakt gehabt hätten: Atemnot, Fieberkrämpfe, Herzbeschwerden, Schwellungen am Hals, schwarze Hautflecken, Lähmungen. Auch Pferde und Kühe seien auf unerklärliche Weise plötzlich verstorben. Anna bekräftigte ihre Unschuld, was aber vom Vorsitzenden zurückgewiesen und worauf sie wieder ins Gefängnis gebracht wurde. Am dritten Verhörtag, dem 16. Mai, wurde ihr Ehemann befragt. Er sagte, Anna sei eine unausstehliche, unverträgliche Person, die ihm immer wieder entlaufen sei und die er deshalb auch immer wieder «wie einen Ochsen» geschlagen habe. Etwas anderes Unrechtes oder Verdächtiges hätte er aber nie bemerkt. Anna wies alle bisher gegen sie erhobenen Vorwürfe zurück, worauf der vorsitzende Richter die beiden Scharfrichter rufen liess und ihnen befahl, Anna in die Folterkammer zu führen und ihr sämtliche Folterwerkzeuge zu zeigen und deren Gebrauch zu erklären. Dennoch beharrte Anna darauf, keine Hexe zu sein.

17. Mai 1680, der vierte Tag des Verhörs. Nachdem Anna erneut ihre Unschuld beteuert hatte, wurde sie von den Scharfrichtern in die Folterkammer geführt, wo ihr die Hände auf dem Rücken zusammengebunden wurden, um sie daran in die Höhe zu ziehen. Zu diesem Zweck befand sich an der Decke über dem Folterstuhl ein Flaschenzug, über den ein Seil lief, an welchem ein eiserner Haken befestigt war und das am anderen Ende auf einer mit einer Kurbel versehenen Walze aufgerollt werden konnte. Nachdem der eine der beiden Scharfrichter den Haken zwischen den zusammengebundenen Händen befestigt hatte, rollte der andere das Seil durch Drehung der Kurbel auf der Walze auf. Dadurch wurde sie an den verdrehten Armen in die Höhe gezogen. Als «sich die Hände auf der Höhe des Kopfes befanden, sich die Schultern abwärts drehten und die Gelenke knackten, stiess sie, noch bevor sie frei in der Luft hing, einen entsetzlichen Schrei aus». Anna flehte die Scharfrichter an, von einem weiteren Hochziehen abzulassen, und sagte: «Ich will eine Hexe sein, wie ihr verlangt». Die Folter wurde unterbrochen, die Schultergelenke wieder eingerenkt und Anna mit Weihwasser besprengt. Als sie zugab, das Schuldbekenntnis nur wegen der unerträglichen Schmerzen abgegeben zu haben, wurde sie sogleich erneut in die Höhe gezogen und «trotz markerschütterndem Schreien drei Vaterunser lang» frei in der Luft hängen gelassen. Wieder unten auf dem Stuhl, wiederholte Anna die vorangegangene Aussage, sie sei tatsächlich eine Hexe und hätte dem Teufel versprochen, ihm zu dienen und dafür Geld zu bekommen. Auf die Frage, wie oft sie es mit dem Teufel getrieben habe, gab sie keine Antwort und wurde sogleich wieder in die Höhe gezogen, dieses Mal «sechs Vaterunser lang». Erst als sie bekannte, es mit dem Teufel getrieben zu haben, wurde sie wieder heruntergelassen. Es folgte eine «höchst schamlose» Untersuchung, mit der die Scharfrichter «diese Unzucht nach allem Detail zu erforschen trachteten». Anna war so verwirrt, dass sie sich bei der folgenden Befragung über die Details der «Unzucht» dermassen in Widersprüche verwickelte, dass sie erneut hochgezogen wurde, diesmal für «eine halbe Viertelstunde». Ohnmächtig geworden, wurde sie für kurze Zeit in Ruhe gelassen. Dann erklärte sie, zu allem bereit zu sein und nur noch sterben zu wollen. Schliesslich wurde sie wieder ins Gefängnis gebracht.

Es folgten zehn weitere Verhörtage, an denen sie wiederum abwechslungsweise gefoltert wurde, Schuldbekenntnisse abgab und diese stets erneut widerrief. Die Zeiten, während denen man sie am Seil hängen liess, wurden von Tag zu Tag verlängert. Am achten Verhörtag band man ihr zusätzlich einen Steinblock von 20 Pfund an beide grossen Zehen und zog sie dann wieder mehrmals hintereinander für längere Zeit in die Höhe.

Unzufrieden mit dem bisherigen Verlauf, wandte sich der vorsitzende Richter sodann an einen auswärtigen Rechtsgelehrten und stellte ihm das gesamte Aktenmaterial zu, um auf diesem Weg zu einem endgültigen und unwiderruflichen Schuldbekenntnis zu gelangen. Am 1. Juni war das Gutachten erstellt. Es besagte, Anna Kramer sei eine «wahre und recht verhärtete Hexe», welche die bisherigen Torturen nur deshalb überlebt hätte, weil sie mit dem Teufel im Bunde stünde. Das Gutachten empfahl, nun «schärfere Torturen» anzuwenden: Schlafberaubung während der Nacht, Aufziehen mit noch schwereren Gewichten, Daumenstock, Beinschrauben, ins Fleisch eindringende Spiesse und Zangen und «Bockspannen», um den Gliedern «unglaubliche» Schmerzen zuzufügen, ohne diese aber auszurenken. Am neunten Verhörtag legte Anna Kramer aufgrund der Androhungen durch diese zusätzlichen und weitergehenden Folterungen ein umfassendes Schuldbekenntnis ab. Den zehnten Verhörtag hält das Protokoll mit folgenden Worten fest: « Heute hat sich die Malefikantin ganz schwach erzeigt; Hunger und Angst während einer vierwöchentlichen strengen Gefangenschaft, die brennenden Schmerzen der verrenkten Glieder und überspannten Sehnen, die quälende Gewalt des zurückgehaltenen Schlafbedürfnisses, die Gewissheit eines baldigen ehrlosen, schmachvollen Todes haben alle Kräfte der 61jährigen Frau gebrochen und sie einer Sterbenden gleichgemacht.»

Am 5. Juni erfolgte die Schlussverhandlung. Hierzu wurden sieben «ehrenhafte und unparteiische» Bürger eingeladen, die mit ihren Unterschriften bestätigten, dass die Angeklagte sämtliche Bekenntnisse des vorangegangenen Verhörtags freiwillig abgegeben hätte, den Pakt mit dem Teufel, das Töten von Vieh mit der Hexensalbe, die Zerstörung von Feldfrüchten durch ein Hagelgewitter, das Verhexen und Ermorden von Kindern, Hexentänze auf Pferden und Kühen. Nach diesem Akt wurde Anna Kramer zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt, ihr aber «gnädigerweise» das Verbrennen bei lebendigem Leibe durch eine vorgängige Enthauptung erlassen.

Am 8. Juni 1680, morgens um acht Uhr, wurde die «Malefikantin» in Begleitung mehrerer Geistlicher, Richter, Schützen, Wächter und einer grossen Volksmenge unter dem Geläute der Kirchenglocken zur Gerichtsstätte geführt. Nach einem gemeinsamen Vaterunser wurde Anna vom Scharfrichter enthauptet, der Leichnam auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Augenzeugen berichteten später, eine «abscheulich dicke Kröte» sei aus dem Haufen herausgekrochen und «sieben Raben» hätten den Ort des Geschehens mehrmals umkreist, bevor sie weiter geflogen seien.

Schätzungsweise gab es, zur Hauptsache zwischen 1450 und 1750, in Europa insgesamt rund drei Millionen Hexenprozesse, die Zahl der zum Tode Verurteilten und Hingerichteten belief sich auf 40‘000 bis 60‘000, drei Viertel davon waren Frauen, nicht selten schon 14- oder 15Jährige. Meistens wurden sie, wie Anna Kramer, so lange gefoltert, bis sie, um den unsäglichen Leiden ein Ende zu setzen, zugaben, eine «Hexe» bzw., wenn es sich um Männer handelte, ein «Hexerich» zu sein.

Eine wesentliche Ursache der Hexenverfolgungen findet man wohl bei den Zeitumständen, die von Krieg – vor allem dem Dreissigjährigen Krieg zwischen 1618 und 1648 –, extremen Unwettern, Hagelstürmen, Missernten, Inflation, Seuchen wie der Pest und apokalyptischen Zukunftsängsten geprägt waren. Nur zu schnell sind in solchen Zeiten Sündenböcke für jedes und alles ausgemacht. Oft genügten, wie auch im Falle von Anna Kramer, schon kleinste Gerüchte, die dann weitererzählt, immer mehr aufgebauscht und mit Legenden aus früheren Zeiten über sündiges Treiben von Hexen im Bunde mit dem Teufel vermischt wurden, sodass auf einmal ganz gewöhnliche Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung zu höchst gefährlichen, bedrohlichen und teuflischen Wesen wurden. Die «geistige» Grundlage für die Hexenprozesse bildete der im Jahre 1486 vom deutschen Theologen Heinrich Kramer verfasste und bis zum Ende des 17. Jahrhunderts in rund 30‘000 Exemplaren verbreitete «Hexenhammer», in dem Frauen als Wesen beschrieben wurden, welche von «sexueller Unersättlichkeit» und einem «Zauber» erfüllt seien, dem Männer meist leichtfertig «zum Opfer» fielen. Weiter beschrieb der «Hexenhammer» im Einzelnen, wie eine Angeklagte zu verhören und unter welchen Voraussetzungen welche Folterpraktiken anzuwenden seien. Eine der häufig angewandten Methoden bestand in der sogenannten «Wasserprobe»: Das Opfer wurde entkleidet, darauf kreuzweise gefesselt, sodass die rechte Hand an die grosse Zehe des linken Fusses und die linke Hand an die grosse Zehe des rechten Fusses so fest geknüpft war, dass es sich nicht rühren konnte. Daraufhin wurde das Opfer an einem Seil in einen Fluss oder Teich bis zu drei Mal hinabgelassen. Wenn es an der Oberfläche blieb – angeblich infolge der ihm vom Teufel verliehenen Leichtigkeit –, wurde es für eine Hexe gehalten, wenn nicht – was in aller Regel den Tod durch Ertrinken zur Folge hatte –, galt es als unschuldig.

Wo es Opfer gibt, da gibt es immer auch Profiteure. Was für die betroffenen Frauen ein Weg durch die Hölle war, verschaffte anderen – bezeichnenderweise ausschliesslich Männern – unverhofften Reichtum. «Eine ganze Schar von Rechtsgelehrten, Advokaten, Richtern und Räten», so Maria Mies in ihrem 1986 erschienenen und 2015 neu aufgelegten Buch «Patriarchat und Kapital», «kamen zu viel Geld. Sie waren durch ihre komplizierten und gelehrten Textinterpretationen in der Lage, die Prozesse so zu verlängern, dass die Kosten dafür stiegen. Es gab auch eine enge Beziehung zwischen den weltlichen Autoritäten, der Kirche, den Herrschern der kleinen Feudalstaaten und den Rechtsanwälten. Die Tatsache, dass die Hexenjagd eine so lukrative Geldquelle war, führte in gewissen Gebieten sogar zur Einrichtung besonderer Kommissionen, die die Aufgabe hatten, noch mehr Menschen als Hexen oder Zauberer zu denunzieren. Wenn die Angeklagten für schuldig befunden wurden, mussten sie und ihre Familien sämtliche Prozesskosten tragen, angefangen bei den Rechnungen für Speise und Alkohol für die Hexenkommission bis zu den Kosten des Holzes für den Scheiterhaufen. Eine weitere Geldquelle waren die Summen, welche reichere Familien den gelehrten Richtern und Anwälten bezahlten, um eines ihrer Mitglieder von der Verfolgung zu befreien, deshalb gab es unter den Hexen fast nur arme und nur selten reiche Frauen. Im Weiteren zogen auch die sich bekriegenden europäischen Fürsten, vor allem zur Zeit des Dreissigjährigen Kriegs zwischen 1618 und 1648, finanziellen Nutzen aus den Hexenverfolgungen, um ihre Kriege zu finanzieren. Gewisse Fürsten organisierten sogar gezielt Hexenjagden, um den Besitz ihrer Untertanen konfiszieren zu können.»

Entgegen der landläufig weit verbreiteten Meinung, Hexenverfolgungen seien vor allem durch die von traditioneller Frauenfeindlichkeit geprägte katholische Kirche vorangetrieben worden, waren die Hexenverfolgungen in protestantischen Gebieten mindestens so, wenn nicht sogar noch weiter verbreitet. Die meisten Hexenprozesse fanden in Deutschland statt, in ausschliesslich katholischen Ländern wie Spanien und Portugal gab es fast keine Fälle, viel weniger als etwa in der Schweiz. Männer, die als heldenhafte Erneuerer eines erstarrten kirchlichen Machtsystems in die Geschichte eingegangen sind, gehörten sogar zu den vehementesten Befürwortern der Hexenverfolgungen. So etwa der deutsche Reformator Martin Luther, der von der Möglichkeit eines Teufelspaktes überzeugt war und in einer Predigt am 6. Mai 1526 unter anderem folgende Äusserungen von sich gab: Es sei ein «überaus gerechtes Gesetz, Zauberinnen zu töten», denn sie «richten viel Schaden an», können «Kinder verzaubern», «geheimnisvolle Krankheiten» erzeugen und stünden oft «im Bunde mit dem Teufel». Auch der Genfer Reformator Johannes Calvin befürwortete die Verfolgung und Hinrichtung von Hexen, behauptete, Gott selber hätte die Todesstrafe für Hexen festgesetzt und war davon überzeugt, die Pest, von der Genf drei Jahre lang schwer befallen war, sei von «Zauberkünsten» ausgelöst worden, in der Folge kam es in Genf zwischen 1520 und 1660 zu insgesamt 65 Hexenverbrennungen. Auch in Zürich: Ein Jahr nach dem Amtsantritt des Reformators Huldrych Zwingli als Pfarrer am Grossmünster wurde im Jahre 1520 auch in der für die damaligen Verhältnisse als «modern» geltenden Stadt erstmals eine «Hexe» zum Tode verurteilt. Protestanten, welche sich offen gegen die Hexenverfolgungen ausgesprochen hätten, so der Zürcher «Kirchenbote» am 4. Oktober 2018, «muss man mit der Lupe suchen». Auch Anna Göldi, die «letzte Hexe Europas», wurde im Jahre 1782 in Glarus nicht von einem katholischen Gremium, sondern vom kantonalen Evangelischen Landrat zum Tode verurteilt. Und es war auch ein reformierter Pfarrer, nämlich Johannes Zollikofer aus dem appenzellischen Herisau, der Ende 17. Jahrhundert nach der Hinrichtung dreier Frauen in seiner Predigt die Frage aufwarf, ob man nicht vorsichtshalber auch die Kinder der drei Frauen hätte töten sollen.

Die Vermutung liegt nahe, dass die Hexenverfolgungen nicht nur oder vielleicht sogar nicht einmal in erster Linie eine Folge von Aberglauben und religiösem Fanatismus waren, sondern mindestens so sehr eine Folge der aufkommenden Neuzeit und damit auch der sich immer stärker durchsetzenden Prinzipien kapitalistischen Fortschrittsglaubens. Die Hexenverfolgungen fanden ja nicht im «dumpfen» Mittelalter statt, sondern in einer Zeit der «Aufklärung», der zunehmenden Bedeutung der Wissenschaften und bahnbrechender Erfindungen wie dem Buchdruck durch Johannes Gutenberg im Jahre 1450. Auch gab es offensichtlich Bezüge zwischen der mit Puritanismus und strenger Arbeitsmoral verbundenen Ausrichtung der Reformation, insbesondere des Calvinismus, und den Grundprinzipien des Kapitalismus. Bezeichnend ist auch, dass es innerhalb der orthodoxen Kirche Osteuropas praktisch keine Hexenverfolgungen gab, ausser in Russland, und dies erst im Zuge einer von Zar Peter vorangetriebenen und auf Zentraleuropa ausgerichteten «Modernisierung» nach kapitalistischem Muster. Schliesslich ist nicht zu übersehen, dass die Hexenprozesse grösstenteils nicht von kirchlichen, sondern von weltlichen Gerichten durchgeführt wurden und die weltlichen Gerichte meist viel schärfere Urteile fällten als die kirchlichen. In höchstem Grade kapitalistisch war auch die Praxis der weltlichen Gerichte, Zeugen für ihre Aussagen Geld zu geben – man kann sich vorstellen, wie viele Falschaussagen dies zur Folge hatte.  

Und damit sind wir bei Silvia Federici, Professorin für Philosophie und internationale feministische Studien sowie Autorin mehrerer Bücher zu den historischen Hintergründen der Hexenverfolgungen. Der Kapitalismus, so argumentiert Federici, konnte sich als Produktionsweise, welche die Industrie als Hauptquelle der Akkumulation etablierte, nur durchsetzen, wenn es gelingen würde, eine neue gesellschaftliche Disziplin zu schaffen, mit der die produktive Kapazität der Arbeitskraft massiv erhöht werden konnte. Das bedeutete, dass alles, was der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft Grenzen setzte, ausgetilgt werden musste, und damit eben auch die Macht der Frauen mit ihrem Bezug zu den Geheimnissen der Natur und ihrer Fähigkeit, ihren Lebensunterhalt aus eigenen, «nichtkapitalistischen» Kräften zu bestreiten, so wie Anna Kramer dies tat, indem sie sich nicht von ihrem Mann unterkriegen liess, nicht davor zurückschreckte, sich ihm selbst im öffentlichen Raum offen entgegenzustellen und, ausserhalb des Hauses und der ehelichen Gewalt, ihren eigenen, selbstbestimmten Weg zu gehen, also genau das zu verkörpern, was wir heute unter einer «emanzipierten» Frau verstehen.

«Die Rationalisierung der Welt», so Federici, «vollzog sich durch die Zerstörung der Hexe. Die unaussprechlichen Qualen, denen die angeklagten Frauen ausgesetzt waren, bildeten nichts anderes als eine Form von Exorzismus gegen ihre natürlichen Kräfte. Die Beschreibung der weiblichen Sexualität als etwas Teuflisches war für die Definition von Hexerei zentral. Denn aus der Sicht der neuen kapitalistischen Elite war die weibliche Sexualität eine eigenständige, mächtige wirtschaftliche Gegenkraft». Deshalb musste die weibliche Sexualität und alles, was an Eros, Lust und Anziehungskraft mit ihr verbunden war, verteufelt und bekämpft werden. Die weibliche Sexualität sollte fortan nur noch der Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse des Mannes und der Erzeugung eines möglichst reichlichen Nachschubs an Arbeitskräften dienen. «Jenseits der Ehe», so Federici, «stellte die weibliche Sexualität für die Kapitalisten nichts anderes dar als eine Bedrohung der Arbeiterdisziplin, eine unheimliche Macht über andere und ein Hindernis für die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Hierarchien und insgesamt der Klassengesellschaft. Die Hexenjagd als extremste Form dieser Gewalt war ein eigentliches Terrorregime gegen alle Frauen, für die es nun keinen anderen Weg mehr gab, als sich gehorsam und unterwürfig der männlichen Ordnung anzupassen. Die Hexe war die Kommunistin ihrer Zeit, die Hexenjagd das Mittel, mit dem die Frauen in Europa für ihre neue soziale Rolle im Dienste der kapitalistischen Gesellschaft erzogen wurden. Auf dem Scheiterhaufen wurden nicht nur die Körper dieser Frauen vernichtet, sondern auch eine ganze Welt sozialer Beziehungen und ein riesiger Wissensschatz über Kräuter, Magie oder Mittel zur Empfängnisverhütung, den Frauen im Laufe der Generationen von den Müttern zu den Töchtern weitergegeben hatten.»

Doch Frauen wurden nicht nur als Hexen beschuldigt, verfolgt, gefoltert und verbrannt, sondern auch auf vielerlei andere Weise unterjocht, gedemütigt und zu willfährigen Dienerinnen ihrer Männer erzogen. So etwa war in den meisten französischen Städten des 14. Jahrhunderts die Gruppenvergewaltigung proletarischer Frauen weit verbreitet. Oft brachen die Vergewaltiger in Gruppen von zwei bis fünfzehn Männern mitten in der Nacht in die Wohnungen ihrer Opfer ein oder schleppten die Frauen durch die Strasse, ohne jeglichen Versuch, sich zu verstecken oder ihre Identität zu verbergen. Unter den Tätern befanden sich oft junge Handwerksgesellen, bessergestellte Hausdiener oder Söhne wohlhabender Familien, die Opfer waren meist Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen. Einmal vergewaltigt, blieben sie meist lebenslang stigmatisiert und landeten oft in der Prostitution. Im 16. Jahrhundert wurden, insbesondere in Spanien und England, Prostituierte, die auf der Strasse arbeiteten, durch Verbannung, Prügelstrafe oder andere grausame Formen der Züchtigung bestraft, so etwa mittels des berüchtigten «Tauchstuhls»: Das Opfer wurde gefesselt, manchmal auch in einen Käfig gesperrt, und dann wiederholt in einen Fluss oder Teich getaucht, bis es beinahe ertrank. In Madrid war es Vagabundinnen und Prostituierten nicht erlaubt, auf der Strasse oder vor den Stadttoren zu schlafen. Wurden sie dort aufgefunden, gab es zur Strafe hundert Peitschenhiebe und die Verbannung aus der Stadt für sechs Jahre, ausserdem wurden ihre Kopfhaare und Augenbrauen geschoren. Die zunehmende Diskriminierung der Frau als «minderwertiges» Wesen nahm sogar – um nur ein Beispiel zu nennen – in England ein derart extremes Mass an, dass dort im 17. Jahrhundert Gesetze eingeführt wurden, wonach sich Frauen nicht alleine im öffentlichen Raum bewegen durften und solche, die man der «Zankhaftigkeit» beschuldigte, mit Maulkörben durch die Strassen geführt wurden.

Massiv veränderte sich auch der Zugang der Frauen zur Arbeitswelt. Waren sie im Mittelalter noch in zahlreichen handwerklichen Berufen tätig gewesen und hatten ihr eigenes Geld verdienen können, so wurde ihnen nun um aufkommenden kapitalistischen Zeitalter der Zugang zu einer wachsenden Zahl von Berufen verwehrt und sie dadurch immer weiter in die Abhängigkeit von ihren Ehemännern gebracht, es begann die bis in unsere Tage bestehende zunehmende Feminisierung der Armut und die Reduktion der Frau auf nichtbezahlte Haus- und Familienarbeit.