Fragwürdige Vereinfachung: Als gäbe es zwischen Jungsozialisten und Putinanhängern, zwischen Klimabewegten und Reichsbürgern keinen wesentlichen Unterschied

Ein Gespenst geht um in Europa. Das Gespenst einer sich anbahnenden Revolution – oder zumindest die Sehnsucht danach. Nebst den Bewegungen gegen den Klimawandel, gegen Rassismus und gegen die Coronamassnahmen melden sich auch Anhänger von Marxismus und Kommunismus zu Wort. So schreibt die Schriftstellerin Sibylle Berg in ihrer “Spiegel”-Kolumne vom “wunderbaren Traum”, dass sich “Proletarier aller Länder” vereinigen. Und die Schweizer Juso-Chefin Ronja Jansen fordert in einem Diskussionsbeitrag zur Zukunft des Service public einen Paradigmenwechsel, weg von der “Kapitalverwertungslogik” hin zum Gemeinwohl aller Menschen. Der Denkfehler solcher Forderungen liegt darin, dass die ersehnte Lösung durch Marxismus sich auch nicht so sehr von den Lösungen von Reichsbürgern, Qanon- und Putinanhängern unterscheidet. Mit ihrer Forderung nach totaler Revolution reden sie letztlich einem Totalitarismus das Wort. Auch wenn diese Revolution einen vermeintlich guten Zweck verfolgt, nämlich eine gerechtere Welt zu schaffen.

(Michèle Binswanger, Tages-Anzeiger, 2. September 2020)

So einfach also kann man es sich machen! Man wirft unterschiedlichste gesellschaftliche und politische Strömungen und Bewegungen von den Reichsbürgern über die Klimabewegten bis zu den Marxisten unbesehen in den gleichen Topf und spricht ihnen somit gleich in globo sämtliche Legitimation ab. Wäre es, ganz im Gegenteil, nicht die Aufgabe eines seriösen Journalismus, die unterschiedlichen Stossrichtungen der einzelnen Bewegungen aufzudecken und sie sorgfältig gegenseitig voneinander abzugrenzen? Denn es kann ja wohl nicht sein, dass man zwischen den Sympathisanten des russischen Präsidenten Putin und der Klimajugend oder zwischen rechtsradikalen Anhängern des Nationalsozialismus und den Demonstranten gegen Rassismus und Polizeigewalt keinen erkennbaren Unterschied wahrzunehmen vermag. Wenn sich die Klimajugend dafür einsetzt, dass auch zukünftige Generationen auf dieser Erde eine Überlebenschance haben, wenn die Anhänger der “Black Lives Matter”-Bewegung für eine Welt kämpfen, in der niemand aufgrund seiner ethnischen Herkunft diskriminiert werden darf, und wenn die Schweizer Juso-Chefin Ronja Jansen politische Veränderungen hin zu einem “Gemeinwohl aller Menschen” fordert, dann hat dies alles wohl nicht im Geringsten mit Totalitarismus zu tun, sondern ganz im Gegenteil mit der Vision einer Zukunft, die von jeglichem Totalitarismus und jeglicher Unterdrückung von Menschen durch andere Menschen befreit ist. Und damit sind wir beim springenden Punkt. Etwas Zentrales nämlich hat Michèle Binswanger in ihrem Artikel vergessen: Dass nämlich der Kapitalismus selber höchst totalitäre Züge trägt. Man wird nun sogleich einwenden, der Kapitalismus hätte der Menschheit doch nie da gewesenen technischen Fortschritt, Wohlstand und individuelle Freiheit beschert. Das stimmt, aber es stimmt eben nur für eine Minderheit der Weltbevölkerung. Während tatsächlich etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung mehr oder weniger grossen Wohlstand geniesst, lebt ein anderer Fünftel in bitterster Armut und sterben jeden Tag weltweit zehntausend Kinder, weil sie nicht genug zu essen und zu trinken haben. Aber wir müssen nicht einmal so weit gehen. Auch hierzulande, im reichsten Land der Welt, sieht es nicht viel anders aus: Während die reichsten 300 Schweizer und Schweizerinnen über ein Gesamtvermögen von über 700 Milliarden Franken verfügen, können rund 500’000 Menschen von ihrem Lohn, den sie bei voller Erwerbstätigkeit verdienen, nicht einmal anständig leben. Bei allen Errungenschaften, die dank dem Kapitalismus möglich geworden sind, etwas vom Grundlegendsten hat er nicht erreicht: soziale Gerechtigkeit. Zugespitzt formuliert ist der Kapitalismus somit durchaus ein totalitäres System, ein System der institutionalisierten sozialen Ungerechtigkeit, das sich nur deshalb so lange an der Macht halten konnte, weil jene, die davon profitieren, zugleich auch jene sind, welche sämtliche politische Machtpositionen einnehmen und alles daran setzen, dass sich an den herrschenden Machtverhältnissen nur ja nicht grundlegend etwas ändert. So gesehen sind die Forderungen von Sibylle Berg, Ronja Jansen und anderen, die man gerne in die Schublade des Marxismus wirft, alles andere als totalitär: Im Gegenteil, sie stellen alles Totalitäre in Frage und öffnen auf hoffnungsvolle Weise den Blick in eine Zukunft, in der alle Menschen über alle Grenzen hinweg frei, gleichberechtigt und ohne gegenseitige Unterdrückung leben können.