Und immer noch werden die gleichen Märchen über den Reichtum und die Armut von Generation zu Generation weitererzählt…

 

Da behauptete doch unlängst einer dieser Multimillionäre allen Ernstes, die wahren Milchkühe seien die Reichen, sie würden nämlich mit ihren hohen Steuerabgaben den Sozialstaat hauptsächlich finanzieren und deshalb verdankten wir ihnen letztlich unseren Wohlstand. Nur hat er vergessen zu erwähnen, woher denn dieses Geld, das sie angeblich so grosszügig verteilen, ursprünglich gekommen ist. Aus Erbschaften zum Beispiel – gesamtschweizerisch fast 90 Milliarden Franken jährlich. Oder aus Aktiengewinnen – die gesamtschweizerisch insgesamt eine höhere Summe ausmachen als sämtliche Einkommen aus Arbeit. Oder aus Immobilienbesitz. Oder aus überdurchschnittlich hohen Löhnen auf Kosten der weniger gut Verdienenden. Kurz: Aus lauter Quellen, wo sich Geld angesammelt hat, welches auf die eine oder andere Weise nicht von ihnen selber, sondern von unzähligen anderen Menschen erarbeitet wurde.

Die Reichen hätten sich ihren Reichtum aus eigener Kraft verdient? Fehlanzeige. Es ist fast ausschliesslich geklautes Geld. Geld, das sich am einen Ende so gigantisch auftürmt, weil es an so vielen anderen Orten so schmerzlich fehlt. Armut und Reichtum sind die beiden unauflöslich miteinander verbundenen Kehrseiten der gleichen – kapitalistischen – Medaille. Genau so, wie es der arme Mann zum reichen in der Parabel von Bertolt Brecht sagte: “Wärst du nicht reich, dann wär ich nicht arm.” Doch immer noch reden Politikerinnen und Politiker, Wirtschaftsleute und Verantwortliche von Sozial- und Hilfsorganisationen stets nur davon, es ginge darum, die Armut zu bekämpfen. Falsch. Es geht darum, den Reichtum zu bekämpfen. Wenn man den Reichtum bekämpft, dann verschwindet die Armut ganz von selber.

Wer behauptet, die Reichen würden den Sozialdienst und unseren Wohlstand finanzieren, hat nur insofern nicht ganz Unrecht, als tatsächlich ein progressives Steuersystem höhere Einkommen und Vermögen höher belastet. Ja, sie geben einen Teil des “Geklauten” tatsächlich der Gesellschaft wieder zurück, aber das Allermeiste behalten sie für sich selber, denn sonst wären sie ja nicht so unglaublich reich und könnten sich nicht so unzählige Luxusvergnügen leisten wie Kreuzfahrten, das Übernachten in den besten Luxushotels der Welt oder den jährlichen Flug auf die Malediven und so vieles mehr, von dem die ärmere Hälfte der Bevölkerung nicht einmal zu träumen wagt.

Die Reichen trügen eine “Bürde”, die schwer auf ihren Schultern laste. Auch so eine aus der Luft gegriffene Behauptung. Nein, Reiche tragen keine Bürden. Wenn jemand eine Bürde trägt, dann die rund 140’000 Menschen in der Schweiz, die trotz voller Erwerbsarbeit zu wenig verdienen, um davon eine Familie ernähren zu können. Vollends absurd schliesslich die auch oft gehörte Behauptung, Reiche würden mehr bezahlen, als sie verdienen. Wenn das tatsächlich so wäre, dann müssten sie ja alle schon längst verhungert sein.

Die absurdeste Behauptung aber, um den eigenen Reichtum zu rechtfertigen, stellte der genannte Multimillionär mit der Aussage auf, Reiche seien eben ganz “besondere” Menschen, würden sich von der Masse abheben und gezielt andere Wege gehen. Als wäre zukünftiger Reichtum bereits in den Genen angelegt und bleibe denen, die es nie zu grösserem Reichtum bringen, nichts anderes übrig, als sich mit ihrer Situation abzufinden und erst noch das Gefühl zu haben, selber daran schuld zu sein.

In solchen Momenten denke ich: Eigentlich befinden wir uns, sozialpolitisch gesehen, in dem, was man durchaus als “Entwicklungsland” bezeichnen könnte: Elementarste wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge werden kaum je thematisiert, auch nicht – und ganz besonders nicht – von denen, die sich “Wirtschaftswissenschaftler” und “Wissenschaftlerinnen” nennen und von denen einer kürzlich allen Ernstes die These aufstellte, der Schweizer Bevölkerung sei es materiell noch nie so gut gegangen wie heute – ohne zu erwähnen, dass die hohen Durchschnittseinkommen und Durchschnittsvermögen nichts anderes sind als die Folge der immer weiter in die Höhe schnellenden Spitzenvermögen und Spitzeneinkommen, was all denen, die unvermindert am unteren Ende dieser Skala verharren – jener Million Menschen in der Schweiz, welche von bitterer Armut betroffen sind -, nicht einmal auch nur der schwächste Trost sein kann.

Ja. Ein Entwicklungsland, wo immer noch, seit Generationen, die gleichen Märchen über den Reichtum und die Armut weitererzählt werden. Und das Verrückte ist: Fast alle glauben es, selbst die Armen und Bestohlenen selber. Wie lange noch?