Ukrainekonflikt: Nur wenn wir aus der Geschichte lernen, können wir es vermeiden, immer wieder in die gleichen Fallen hineinzutappen…

 

Die Forderung des französischen Präsidenten Emanuel Macron nach Friedensgesprächen im Ukrainekonflikt, die nicht zu einer Demütigung Russlands führen dürften, sondern die Sicherheiten Russlands gebührend berücksichtigen müssten, sei aus historischer Sicht nachvollziehbar – so Jean-Pierre Maulny, Vizedirektor des Pariser Thinktanks Institut des Relations Internationales et Stratégiques, zitiert in einem Artikel des “Tagesanzeigers” vom 13. Dezember 2022. Denn wozu eine Politik der Demütigung führen könne, so Maulny, hätte man am Beispiel des Versailler Vertrags sehen können, mit dem Deutschland die alleinige Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs zugeschoben, das Land zu immensen Reparationszahlungen verpflichtet und Deutschland wirtschaftlich erdrosselt worden sei, was schliesslich den Aufstieg Hitlers und damit den Zweiten Weltkrieg zur Folge gehabt hätte. Dennoch lehnt Maulny Macrons Forderungen nach Friedensverhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt ab; “Das ist ein Fehler, der sich zwar erklären lässt, aber nicht gemacht werden darf. Denn Macron ist nicht Historiker, sondern Präsident. Er darf seine Rolle nicht verwechseln.”

Politiker und Politikerinnen sollen nicht zugleich auch Historikerinnen und Historiker sein dürfen? Was für eine gefährliche und verhängnisvolle Forderung. Ist doch gerade nichts so wichtig, als aus der Geschichte zu lernen, um nicht immer und immer wieder in die gleichen Fallen hineinzutappen und immer und immer wieder die gleichen Fehler zu begehen. Wir brauchen nicht weniger Politikerinnen und Politiker, die zugleich auch Historikerinnen und Historiker sind, sondern viel, viel mehr von ihnen. Geschichtliches Bewusstsein und die Kenntnis über geschichtliche Zusammenhänge sollten sogar die Grundvoraussetzung sein für die Ausübung jeglichen politischen Amtes, vor allem aber für die allerhöchsten und verantwortungsvollsten Ämter in einer demokratischen Gesellschaft.

Was herauskommt, wenn geschichtliches Verständnis und Bewusstsein abhanden gekommen sind, können wir mittlerweile tagtäglich miterleben. Ohne geschichtlichen Hintergrund wird die Realität zur Lüge und die Lüge zur Realität. Die Lüge nämlich, der Ukrainekrieg hätte unvermittelt und ganz überraschend am 24. Februar mit dem Überfall eines brutalen Aggressors auf ein unschuldiges, demokratisches Land begonnen, aus reiner Menschenverachtung, blindwütiger Eroberungslust und ohne jegliche Vorgeschichte. Und gleichzeitig mit dieser Lüge das Schweigen darüber, dass der Westen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 das Versprechen abgegeben hatte, die NATO auf keinen Fall in Richtung Osten auszudehnen – ein Versprechen, das in der Folge mit jedem Land, das in die NATO aufgenommen wurde, stets wieder aufs Neue gebrochen wurde. Das Schweigen darüber, dass Wladimir Putin im Jahre 2001 dem Westen einen Beitritt Russlands zur NATO und noch 2008 eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur zwischen Russland und Europa vorgeschlagen hatte. Das Schweigen darüber, dass der frühere amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski im Jahre 2009 gesagt hatte, Ziel müsse die Errichtung einer neuen “Weltordnung” sein, die “auf den Ruinen Russlands und auf Kosten Russlands” zu errichten sei. Das Schweigen darüber, dass 2014 auf dem Kiewer Maidan unter höchstwahrscheinlicher Beteiligung der CIA eine russlandfreundliche Regierung weggeputscht und durch eine NATO- und EU-freundliche Regierung ersetzt wurde. Das Schweigen darüber, dass die Ukraine ab 2014 von den USA systematisch aufgerüstet und regelmässige gemeinsame Trainings und Manöver durchgeführt wurden. Das Schweigen darüber, dass noch Ende 2021 Putin der US-Regierung vorgeschlagen hatte, den Ukrainekonflikt friedlich beizulegen, was von der westlichen Seite in Bausch und Bogen verworfen wurde. 

Wahrscheinlich sähe die Welt ganz anders und viel friedlicher aus, wenn alle Politikerinnen und Politiker zugleich auch Historikerinnen und Historiker wären. Erstaunlicherweise sagte sogar der ukrainische Präsidentenberater Oleksiy Arystowitsch: “Die nationale Idee der Ukraine ist, sich selbst  und andere zu belügen. Denn wenn man die Wahrheit sagt, bricht alles zusammen.” Wenn man etwas aus der Geschichte lernen kann, dann dies: Dass Kriege noch nie etwas anderes gebracht haben als Tod, Elend, Verderben und Zerstörungen. Noch nie ist jemals ein Krieg gewonnen worden. Kriege kann man nicht gewinnen, man kann sie nur verlieren. Die alleinige Schuld am Ukrainekrieg Russland in die Schuhe zu schieben, ist ebenso töricht und fern jeder Realität, als die alleinige Schuld dem Westen in die Schuhe zu schieben. Lösen lässt sich der Konflikt nie und nimmer auf dem Schlachtfeld, sondern einzig und allein am Verhandlungstisch, wo beide Seiten sich nicht bloss gegenseitig alle Schuld in die Schuhe schieben, sondern bereit sind, ebenso die eigenen Fehler und Versäumnisse einzugestehen. “Jede Friedenslösung”, sagte Yves Rossier, langjähriger Schweizer Botschafter in Moskau, “muss Russland einbinden und sie muss gerecht sein.” Dafür ist es allerhöchste Zeit. Denn, wie schon der frühere US-Präsident John F. Kennedy sagte: “Entweder setzt die Menschheit dem Krieg ein Ende, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.”