Ukrainekonflikt: Auge um Auge, Zahn um Zahn – bis am Ende alle blind sind

 

Während schon vom dritten Weltkrieg die Rede ist, schreibt Anatol Lieven, Russlandforscher bei der US-Denkfabrik Quincy Institute for Responsible Statecraft, im “Guardian”, dass eine diplomatische Lösung des Ukrainekonflikts nach wie vor möglich sei und es durchaus dafür noch Spielraum gäbe. “Der Westen”, so Lieven, “würde moralisch falsch liegen, wenn er sich gegen einen angemessenen Deal wehren würde, mit dem die Invasion und das Leid der ukrainischen Bevölkerung beendet werden könnte.” In der Tat. So sehr man in aller Deutlichkeit und Schärfe die Invasion Russlands in die Ukraine verurteilen muss, so entschieden müsste man für eine friedliche Verständigung und einen Kompromiss zwischen den beiden Konfliktparteien eintreten. Dass die Maximalforderungen sowohl von der einen wie auch von der anderen Seite – NATO-Beitritt der Ukraine versus Einverleibung der Ukraine in die Russische Föderation – zum Vornherein unvereinbar sind und, solange beide Seiten stur daran festhalten, zu nichts anderem führen als zu einer weiteren, immer gefährlicheren Eskalation des Konflikts, ist sonnenklar. Es gibt keine einzige denkbare Alternative zu einer Friedenslösung, die nur zustande kommen kann, wenn beide Seiten zu einem Kompromiss bereit sind. Denn, so ein Bericht amerikanischer Geheimdienste in der “New York Times”: Wird Putin durch die heftige Reaktion des Westens weiter in die Enge getrieben, könnte er zu bislang undenkbaren Mitteln greifen, um sich aus seiner misslichen Lage zu befreien. Dass Nachgeben ein Zeichen von Schwäche sei, ist ein Irrtum, der über Jahrtausende unermessliches Leiden über die Menschheit gebracht hat. Es ist der uralte alttestamentliche Glaubenssatz, wonach jeder Form von Gewalt mit noch grösserer Gewalt begegnet werden müsse: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ein Glaubenssatz, mit dem schon Jesus gründlich Schluss machte, indem er die Feindesliebe ins Zentrum seiner Lehre stellte. Und auch Mahatma Gandhi verfolgte die Philosophie der Gewaltlosigkeit, indem er das Prinzip “Auge um Auge, Zahn um Zahn” ad absurdum führte und davor warnte, dass, wenn man ihm folgte, am Ende alle blind seien, sowohl die vermeintlichen “Sieger” wie auch die vermeintlichen “Gewinner”. Auch der römische Schriftsteller und Philosoph Cicero hatte schon vor über 2000 Jahren gesagt: “Der ungerechteste Frieden ist immer noch besser als der gerechteste Krieg.” Und der chinesische Philosoph Laotse sagte im 6. Jahrhundert: “Der Weise ist auf Entscheidung aus, aber er entscheidet fern der Gewalt.” Weshalb sind diese Stimmen im Laufe der Geschichte immer und immer wieder untergegangen? Weshalb hat die Gewalt immer und immer wieder über die Gewaltlosigkeit und radikale Feindesliebe obsiegt? Ein tiefgreifender Paradigmenwechsel ist heute dringender nötig denn je, haben die Worte des früheren US-Präsidenten John F. Kennedy, wonach entweder die Menschheit dem Krieg ein Ende setzen wird, oder aber der Krieg der Menschheit ein Ende setzen wird, in einer Zeit, da sogar ein Atomkrieg nicht mehr gänzlich auszuschliessen ist, eine nie dagewesene Aktualität erlangt. Wenn ein Ehepaar zerstritten ist, wird eine Mediatorin beigezogen. Für Arbeitskonflikte gibt es Gewerkschaften. Für Diebstähle, Gewalttaten und andere Delikte gibt es Gerichte. Aber wenn sich zwei bis an die Zähne bewaffnete Grossmächte bedrohlich gegenüberstehen, dann ist da weit und breit niemand in Sicht, der schlichtend eingreift und nicht schon zum Vornherein die Position der einen oder der anderen Seite einnimmt. Bräuchte es vielleicht so etwas wie einen “Rat der Weisen”, in dem nicht nur Politiker und Politikerinnen alter Schule Einsitz haben, sondern Künstlerinnen und Philosophen, Psychologinnen und Friedensforscher, Väter und Mütter, Kinder und Jugendliche mit ihren Visionen von einer Welt voller Liebe, Frieden, Gerechtigkeit und einem guten Leben für alle? Das Schreckliche an der heutigen Zeit ist: Dass wir angesichts immer grösserer Bedrohungen von der Armut und dem Hunger in weiten Teilen der Welt über einen drohenden Weltkrieg bis hin zur Klimakatastrophe fast schon jegliche Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft verloren haben. Das Gute an der heutigen Zeit ist: Dass uns alle diese Bedrohungen dazu zwingen, ob wir wollen oder nicht, die bisherigen Denkmuster räuberischer Macht- und Profitgier, kriegerischen und gewalttätigen Grossmachtdenkens und verantwortungsloser Blindheit gegenüber den Bedürfnissen der Natur und zukünftiger Generationen aufzugeben und radikal neue Wege zu beschreiten. Diese Lektion ist es, an der wir nicht vorbeikommen, wenn wir wollen, dass auch unsere Kinder und Kindeskinder in 50 oder 100 Jahren auf diesem Planeten noch ein lebenswertes Zuhause haben. Es ist eben genau so, wie der britische Philosoph Bertrand Russell vor über 50 Jahren zu bedenken gab: “Die zentrale Frage der heutigen Zeit ist, wie man die Menschheit überreden kann, in ihr eigenes Überleben einzuwilligen.”