Der Krieg ist nur die extremste Form der Klassengesellschaft…

 

Der amerikanische Verteidigungsminister Austin fordert die Schwächung Russlands so umfassend, dass es nie mehr zu einer solchen Invasion wie derjenigen gegen die Ukraine in der Lage sein solle. US-Präsident Biden spricht von einer “Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie”. Der ukrainische Präsident Selenski rührt unablässig die Kriegstrommel und treibt zaudernde westliche Politiker im Kampf gegen das “Böse” mit allen Mitteln medialer Inszenierung vor sich her. Der deutsche Bundeskanzler Scholz spricht davon, dass jene, welche sich gegen die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine wehren, “aus der Zeit gefallen” seien. Der russische Aussenminister Lawrow droht mit dem Einsatz von Atomwaffen. Und der russische Präsident Putin denkt an eine Generalmobilmachung der russischen Armee und auch er, mit den gleichen Worten wie Selenski, spricht vom Kampf gegen das “Böse”. Aber keiner von ihnen, weder Austin, Biden, Scholz noch Selenski, weder Lawrow noch Putin, werden jemals selber in diesen Krieg ziehen. Alle ihre Sieges- und Durchhalteparolen verkünden sie aus der Sicherheit und dem Schutz ihrer Bunker, ihrer Regierungsgebäude und ihrer Paläste. Ja. Was wir erleben, ist nicht wirklich ein Krieg des “Guten” gegen das “Böse” oder einen Feldzug zwischen Russland und der Ukraine. Es ist, vor allem, ein Krieg der Reichen gegen die Armen, der Mächtigen gegen die Ohnmächtigen. Kein Zufall, dass sie alle, welche die Fäden der Macht und der Gewalt in ihren Händen halten, in ihren jeweiligen Ländern zu den Reichsten gehören, zur totalen Oberschicht, zu jener “Elite”, die sich selbst dann noch die erlesensten Speisen auf dem Silbertablett servieren lassen, während um sie herum alles in Asche versinkt. “Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg”, schrieb der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque zur Zeit des Ersten Weltkriegs, “bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.” Immer wieder, seit Jahrhunderten, das Gleiche: Auch in den Heeren der Könige, Kaiser und Fürsten des 17. und 18. Jahrhunderts kämpfte selten ein Angehöriger der Oberschicht an vorderster Front gegen den “Feind”, dort gaben nur die Ärmsten, für welche der Kriegsdienst den einzigen Ausweg aus bitterem Elend bildete, ihr Leben hin. Im Vietnamkrieg war es nicht anders: Den Hauptharst der US-Truppen bildeten Männer und Frauen aus der Unterschicht, angelockt durch einen Verdienst, der ihren kargen Arbeitslohn weit übertraf oder sie vom Schicksal der Arbeitslosigkeit befreite – während die Abkömmlinge der Reichen und Reichsten und damit auch der allermeisten Politikerinnen und Politiker jedes Mittel nutzten, um sich vom verhassten Kriegsdienst zu befreien. Wie eine Schachpartie: Die Könige verstecken sich hinter einer Mauer aus Türmen, Läufern und Springern – draussen auf dem Schlachtfeld werden die kleinen Bauern geopfert, damit die Sicherheit des Königs nicht bedroht ist. Wir wundern uns über die Bilder längst vergangener Schlachten, wir wähnen uns in einer anderen, besseren Zeit, doch wiederholt sich noch immer alles nach den gleichen Regeln sinnloser gegenseitiger Vernichtung, bloss dass heute alles ein bisschen “moderner” aussieht als vor 200 oder 300 Jahren. Doch Krieg kann es nur so lange geben, als es ein “Oben” und ein “Unten” gibt: Reiche und Mächtige, die sich gewohnt sind, die Welt beherrschen und nach ihrem Gutdünken ordnen zu können – Arme und Machtlose, die sich gewohnt sind, Befehle entgegenzunehmen und auszuführen, selbst wenn sie dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen müssen. Der Krieg ist nur die extremste Form der Klassengesellschaft, aber alles andere ist die Vorbereitung dazu. Es braucht die Erziehung, die Abrichtung, das Auslöschen der natürlichen Gefühle, die Fremdbestimmung, die Propaganda, das Aufhetzen, den Aufbau von Feindbildern. Kein Kind würde von sich aus in den Krieg ziehen. Zuerst muss es tausendmal umgebogen werden, bis es “reif” ist für das Schlachtfeld und für den Wahnsinn, sein Leben aufs Spiel zu setzen für seine Führer, die sich gleichzeitig hinter ihren immer dickeren Mauern vor ihnen verstecken. “Wenn alle Menschen”, sagte der russische Schriftsteller Leo Tolstoi, “nur aus Überzeugung in den Krieg zögen, dann würde es keinen Krieg geben.” Und Albert Einstein sagte: “Ein kluger Kopf passt unter keinen Stahlhelm.” Ja, es gibt ein Mittel gegen den Krieg: die Vernunft, die angeborene Intelligenz des Menschen, den angeborenen Widerstand gegen alles, was mit Gewalt und Ungerechtigkeit zu tun hat. Jedem Kind bricht es das Herz, wenn es aus Unachtsamkeit ein Marienkäferchen zertrampelt oder sich an der Fensterscheibe ein Schmetterling den Flügel bricht. Der Mensch ist gut. Aber zugleich ist er sehr, sehr zerbrechlich. Noch ist das Zeitalter der Marienkäferchen und der Schmetterlinge nicht angebrochen, noch dröhnen uns die Raketen und die Panzer um die Ohren, noch kann ein deutscher Bundeskanzler dem Pazifismus vorwerfen, er sei “aus der Zeit gefallen”. Aber sind nicht vielmehr all jene aus der Zeit gefallen, welche mitten im 21. Jahrhundert immer noch die Schlachten früherer Jahrhunderte schlagen, als wäre in der Zwischenzeit nichts geschehen? “Jede Kanone, die gebaut wird”, sagte US-Präsident Dwigth D. Eisenhower, “jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.” Ja, die Hoffnung unserer Kinder. Sie ist der grösste Schatz, den wir besitzen. “An den Frieden denken”, sagte Michail Gorbatschow, der letzte Generalsekretär der Sowjetunion, “heisst, an die Kinder denken.” Und Olof Palme, früherer Ministerpräsident Schwedens und überzeugter Pazifist, formulierte es so: “Weil unsere Kinder unsere einzige reale Verbindung zur Zukunft sind, und weil sie die Schwächsten sind, gehören sie an die erste Stelle der Gesellschaft.” In einer so schweren Zeit wie der unseren sollten wir doch etwas nicht vergessen: Die Welt hat sich in den letzten hundert Jahren nicht nur zum Schlechten verändert. Gegen die Kräfte der Ausbeutung, Gewalt und Fremdbestimmung gibt es eine faszinierende und hoffnungsvolle Gegenbewegung, die Bewegung von Emanzipation, Gleichberechtigung und Menschenwürde. Das geht nicht so schnell, Fesseln, die über Jahrhunderte festgezurrt wurden, lassen sich nicht vom einem Tag auf den andern abschütteln. Aber es geht voran. Und das ist das Tröstliche: Je mehr diese Bewegung um sich greift, umso absurder werden sich Dinge wie Krieg in Zukunft immer mehr in ihrer Absurdität entlarven. Und deshalb wird zweifellos der Krieg als Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte eines Tages für immer Vergangenheit sein. Niemand hat diese Hoffnung so schön ausgesprochen wie die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer: “Wir malen sie aus und wir wissen, dass wir sie erleben werden: Die Zukunft, von der wir träumen. Das ist die Magie gesellschaftlicher Kipppunkte – wir wissen nicht genau, wann wir sie erreichen, aber wir wissen, dass sie kommen.”