Isjum: Nicht einzelne Gräueltaten, sondern der Krieg als solcher ist das Verbrechen…

 

“Das ist ein Völkermord an den Ukrainern”, sagt die ukrainische Politikerin Inna Sowsun, “schlimmer als Butscha”, so berichtet das “Tagblatt” vom 19. September 2022, stellvertretend für nahezu die gesamten westliche Berichterstattung über den Fund von rund 450 Leichen in der Nähe der von den Ukrainern zurückeroberten Stadt Isjum vor wenigen Tagen. Und obwohl die Untersuchung der Leichen eben erst begonnen hat, vergleicht auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski das Vorgehen der russischen Besatzer mit Blick auf die Gräberfunde in Isjum mit den Nazigräueln im Zweiten Weltkrieg. Es gäbe grausamste Folter, Deportationen, verbrannte Städte, bodenlosen Hass und nichts Lebendiges mehr unter russischer Besatzung. Ins gleiche Horn bläst John Kirby, Kommunikationsdirektor des amerikanischen Nationalen Sicherheitsrates: “Es passt leider zu der Art von Verdorbenheit und Brutalität, mit der die russischen Streitkräfte diesen Krieg gegen die Ukraine und das ukrainische Volk führen. Es ist absolut verdorben und brutal.” Aussagen, welche das offizielle westliche Bild vom Ukrainekonflikt einmal mehr in aller Schärfe zementieren: Hier die “guten” Ukrainer, welche für die Befreiung ihres Landes heldenhaft kämpfen, dort die “bösen” Russen, die nicht einmal vor Völkermord und Kriegsverbrechen zurückschrecken, die sich mit nichts weniger als den Gräueltaten der Nazis im Zweiten Weltkrieg vergleichen lassen.

Doch entspricht dieses Schwarzweissbild der tatsächlichen Realität? Gehört der Krieg der Worte, der Propagandakrieg, nicht ebenso zum Arsenal einer Kriegspartei wie der Kampf auf dem Schlachtfeld? Ist das, was in Isjum geschah, tatsächlich mit den Gräueltaten der Nazis zu vergleichen? Immerhin muss zu denken geben, dass selbst Olek Kotenko, der ukrainische Verantwortliche für Vermisstensuche, einräumt, dass, wie “20minuten” am 19. September 2022 berichtet, “die Mehrzahl der Opfer unter Beschuss gestorben sind, die Menschen sind umgekommen, als die russischen Truppen die Stadt mit Artillerie beschossen. Zudem sind viele Menschen an Hunger gestorben, weil es keine Versorgungsmöglichkeiten gegeben hat.” Das macht das Ganze freilich nicht besser, jeder Tote ist einer zu viel. Doch es ist eben dennoch ein gewaltiger Unterschied, ob die getöteten Menschen Opfer der “russischen Brutalität” sind oder aber Opfer eines Kriegs, der auf beiden Seiten und über alle Fronten hinweg unsägliches Leiden anrichtet. Denn so wie man in Isjum Gräber mit getöteten ukrainischen Zivilpersonen gefunden hat, so könnte man andernorts auch ebenso Gräber mit Opfern ukrainischer Kriegshandlungen entdecken. Denn in keinem Krieg gibt es bloss einzelne “Kriegsverbrechen” und anderes, was man nicht als Verbrechen bezeichnen müsste. Nein, der Krieg als solcher ist ein Verbrechen. Und demzufolge kann auch nicht ein “Sieg” der einen Seite gegen die andere diesem Verbrechen, diesem Wahnsinn ein Ende bereiten, sondern nur ein Waffenstillstand sowie Friedensverhandlungen. Böse, abscheulich und verbrecherisch sind weder alleine die Russen noch alleine die Ukrainer. Böse, abscheulich und verbrecherisch ist der Krieg als solcher und die Unfähigkeit machtgieriger Politiker, ihn so schnell wie möglich und wenn nötig auch unter gegenseitiger territorialer und  politischer Zugeständnisse zum Stillstand zu bringen.

Als die ukrainischen Truppen in die Gegend von Isjum einmarschierten, wurden unter anderem Briefe von russischen Soldaten gefunden, in welchen diese die Sinnlosigkeit dieses Krieges und ihre Sehnsucht nach Frieden bekunden. Auch war kürzlich zu vernehmen, dass gemäss Meinungsumfragen die Mehrheit der Russinnen und Russen zwischen 20 und 30 Jahren das schnellstmögliche Ende des Kriegs befürworten. Meldungen, die in den westlichen Medien nicht einen Bruchteil des Widerhalls finden, welche das angebliche “Massaker” von Isjum ausgelöst haben. Ob es deshalb ist, weil dies alles zu sehr jenes Bild der “bösen” und “verbrecherischen” Russen durcheinanderbringen würde, welches in der öffentlichen westlichen Meinungsbildung über so lange Zeit und so planmässig aufgebaut worden ist und uns schon gar nicht mehr auf den Gedanken bringen lässt, es könnte auch alles ganz anders sein?