Ukraine: Müssen noch mehr Menschen sterben, nur damit ihr Land “befreit” werden kann?

 

Gemäss einem Bericht des “Tagesanzeigers” vom 8. Juni 2022 schliesst der ukrainische Präsident Wolodomir Selenski eine Waffenruhe derzeit aus. Ziel sei es, wieder die Kontrolle über die von Russland eroberten Gebiete zu erlangen. Ein Ende des von Russland gegen sein Land geführten Kriegs sei nur “auf dem Schlachtfeld” möglich. “Wir haben”, so Selenski, “schon zu viele Menschen verloren, um jetzt einfach unser Territorium abzutreten.” Wie zynisch. Da ja bereits so viele Menschen gestorben sind, spielt es also laut Selenski keine Rolle mehr, noch weitere tausende Menschen zu opfern – Hauptsache, das Territorium wird von der russischen Besatzung “befreit”. Doch was ist der fürchterliche Preis, den die Menschen dafür bezahlen müssen! Ist es den Bewohnerinnen und Bewohnern der Ostukraine tatsächlich so wichtig, Staatsangehörige der Ukraine, aber auf keinen Fall Russlands zu sein? Ist es nicht unvergleichlich viel wichtiger, genug zu essen zu haben, sauberes Trinkwasser, ein Dach über dem Kopf, gute medizinische Versorgung, einen ausreichend bezahlten Job, Zugang zu Freizeitaktivitäten, Bildung und Kultur? “Die Menschen haben für mich Priorität”, sagt Selenski. Wenn er das wirklich ernst nähme, müsste er sich mit aller Vehemenz für eine Waffenruhe einsetzen und für Friedensverhandlungen mit Russland. Dem Wohl der Menschen ist gewiss nicht gedient, wenn der Krieg unnötig in die Länge gezogen wird. Denn ukrainische Waffen sind genauso tödlich und zerstörerisch wie russische Waffen. Ein Land befreien zu wollen, indem man es zerstört, bloss um in letzter Konsequenz über Gebiete zu herrschen, die fast gänzlich menschenleer geworden sind und in denen jegliche Bauten und jegliche Infrastruktur dem Boden gleichgemacht wären, könnte widersinniger nicht sein. Kriege kann man nicht gewinnen, sie hinterlassen nicht Sieger und Verlierer, sondern am Ende sind alle Verlierer. Die Waffen müssen so schnell wie möglich schweigen. An die Stelle der Kriegslogik muss die Friedenslogik treten. Es müsste das gemeinsame Ziel der Konfliktparteien sein, all den Menschen, die schon viel zu lange unter Krieg, Zerstörung, Sanktionen und Repressalien aller Art leiden mussten, endlich ein gutes Leben in Wohlstand, sozialer Gerechtigkeit und Frieden zu ermöglichen, durch Kooperation, Handelsbeziehungen und kulturellen Austausch im Dienste der Völkerverständigung – ganz unabhängig davon, ob die betroffenen Menschen nun Staatsangehörige der einen oder der anderen Nation sind oder gar Angehörige einer eigenständigen, unabhängigen Republik. Der Ukrainekonflikt zeigt uns, dass Nationalismus und die weit überdimensionierte Bedeutung staatlicher Grenzen wohl dringendst überwunden werden müssen. Stets sind nämlich auch weltweit die Staatszugehörigkeit und die Verabsolutierung staatlicher Grenzen stets die Quelle von Konflikten und Kriegen. Wir sollten endlich erkennen, dass jeder Mensch in erster Linie eine Weltbürgerin, ein Weltbürger ist und erst an zweiter oder dritter Stelle Angehöriger eines bestimmten Staates. Eine logische Weiterführung dieses Gedankens wäre die Idee, die bisherigen Staaten durch eine Vielzahl von Regionen zu ersetzen, deren Verhältnis untereinander nicht von Konkurrenz, Machtkämpfen und territorialen Besitzansprüchen geprägt wäre, sondern von gegenseitiger Kooperation sowie wirtschaftlichem und kulturellem Austausch. “Die Ukraine”, so der frühere US-Aussenminister Henry Kissinger, “sollte nicht Teil des einen oder des anderen Machtblocks sein, sondern eine Brücke zwischen beiden Seiten.” Eine vielversprechende Vision, in der die Ukraine wie auch Russland, wenn erst endlich einmal die Waffen schweigen, die einmalige Chance hätten, mit dem guten Beispiel voranzugehen hin zu einer Welt, die nicht mehr vom Gegeneinander verfeindeter Machtblöcke bestimmt wäre, sondern in der jedes Land und jede Region eine Brücke wäre zu allen anderen, eine Stätte des Wohlergehens aller Menschen, des guten Lebens und des Friedens für alle.