Ukraine: Jetzt, wo der Pazifismus dringender nötig wäre denn je, hat er sich still und heimlich verabschiedet…

 

Russland hätte im Ukrainekrieg gemäss Aussagen von Präsident Selenksi bisher 99’000 Soldaten verloren, berichtet der “Tagesanzeiger” vom 21. Dezember 2022. Über die eigenen Verluste würden keine Zahlen genannt, doch der amerikanische Generalstabchef Mark Milley schätze, dass die Opferzahlen auf ukrainischer Seite etwa gleich hoch seien wie diejenigen auf russischer Seite. “Die Kämpfe von Bachmut, wo täglich schätzungsweise 50 bis 100 Russen und etwa ebenso viele Ukrainer ums Leben kommen, sowie weiter südlich in Orten wie Marinka oder nördlich Kreminina”, so der “Tagesanzeiger”, “verlaufen ohne deutliche Gewinne für Ukrainer und Russen – mit Sicherheit aber mit Tausenden von Toten. Das zähe, blutige Ringen könnte auch angesichts der verstärkten Befestigungen symptomatisch sein für den weiteren Kriegsverlauf.” Kein Wunder, leide darunter auch zunehmend die Moral innerhalb der kämpfenden Truppen. Soeben habe deshalb das ukrainische Parlament eine Verschärfung der Strafen für Deserteure und Befehlsverweigerer beschlossen, da es an der Front wiederholt zu selbständigem Verlassen des Kampffeldes oder zur Weigerung komme, die Waffe zu benutzen. Besonders betroffen sei auch die Zivilbevölkerung, der Gouverneur von Luhansk spreche von einer “humanitären Katastrophe” und berichte von Frauen und Kindern, die ohne Strom und Heizung im Keller leben müssten und im Kampf gegen die Kälte gezwungen seien, ihre eigenen Möbel zu verbrennen.

Kann man sich etwas Sinnloseres vorstellen? Wer kann am Ende auch nur den entferntesten “Nutzen” daraus ziehen, dass hier Tag für Tag Hunderte von Menschen für ein paar Meter Geländegewinn geopfert werden, ein paar Meter Geländegewinn, die letztlich nichts anderes bedeuten, als das ganze Dörfer und Städte auf lange Zeit hinaus zerstört und unbewohnbar gemacht werden? Wer noch auch nur im Entferntesten dachte, Krieg könne, je nach Umständen, auch etwas “Richtiges” oder “Sinnvolles” sein, und wer noch immer darauf pochte, man müsste eben unterscheiden zwischen “guten” und “schlechten” Kriegen, der müsste angesichts dieses Wahnsinns, der sich gegenwärtig vor unseren Augen in der Ukraine abspielt, wohl definitiv eines Besseren belehrt werden. “Jede Kanone, die gebaut wird”, sagte der frühere US-Präsident Dwight D. Eisenhower, “jedes Kriegsschiff, das vom Stapel zieht, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur das Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.”

Doch ausgerechnet jetzt, wo dieser Krieg ein alles Bisherige überschattende Brutalität angenommen hat, sind die Stimmen all jener, die zu Friedensverhandlungen und einem Ende des Kriegs aufgerufen hatten und die schon von Anfang an schwach und zaghaft waren, nun noch gänzlich verstummt. Jetzt, wo der Pazifismus dringender nötig wäre denn je, hat er sich still und heimlich verabschiedet. Als hätten wir uns in diesen 300 Tagen seit dem 23. Februar 2022 so nach und nach an den Krieg gewöhnt, als wäre er zu einer Art “Normalität” geworden, die nun ganz einfach, ohne dass man dagegen etwas tun könnte, weitergehe bis zu ihrem bitteren Ende.

Doch Kriege sind nicht Naturereignisse, denen wir hilflos ausgeliefert wären. Kriege sind von Menschen gemacht und können ebenso auch wieder von Menschen beendet werden. Wenn die ganze Welt entschieden und geeint auftreten und das Ende dieses Kriegs fordern würde, dann wäre es durchaus denkbar. “Jene, die den Frieden lieben”, sagte Martin Luther King, “müssen sich ebenso wirkungsvoll organisieren wie jene, die den Krieg lieben.” Hierzu aber bedarf es einer gänzlich neuen Sichtweise. Alle möglichen bisherigen Ansätze zu einer friedlichen Lösung sind dadurch vereitelt worden, dass stets die Schuldfrage im Vordergrund stand. Sah Russland die ganze Schuld bei der Machtpolitik des Westens und einem möglichen Beitritt der Ukraine zur NATO, lag anderseits aus der Sicht des Westens die alleinige Schuld bei den völkerrechtswidrigen Expansionsgelüsten Russlands. Eine Friedenslösung wird erst möglich, wenn die Schuldfrage überwunden wird und nicht mehr in die Vergangenheit geschaut wird, sondern einzig und allein in die Zukunft: In eine Zukunft, in der ein gutes Leben für alle auf diesem Flecken Erde möglich sein soll, unabhängig davon, zu welcher Nation sich die einen oder die anderen zugehörig fühlen, und unabhängig davon, wo die einzelnen territorialen Grenzen hindurchlaufen.