Ukraine-“Friedenskonferenz” auf dem schweizerischen Bürgenstock: Die Tischordnung und das leibliche Wohl der Gäste als die wichtigsten Knackpunkte…

Der grösste Knackpunkt bei den Vorbereitungen zu der am 15. Juni beginnenden Ukraine-Friedenskonferenz auf dem schweizerischen Bürgenstock, so Protokollchef Terence Billeter, sei derzeit die Tischordnung beim gemeinsamen Abendessen der rund 70 Delegationen, so berichtete das “Tagblatt” am 3. Juni 2024. Man wisse nämlich wahrscheinlich bis zuletzt nicht genau, welchen Rang die jeweiligen Vertreterinnen und Vertreter der teilnehmenden Staaten bekleiden würden, und genau dies sei eben massgebend für die Tischordnung. Das Menu hingegen stehe mittlerweile fest. Man habe sich für ein saisongerechtes Essen mit lokalen Zutaten entschieden, mit einem “Swiss Touch”. Das Dinner, so Billeter, sei für die Atmosphäre einer Konferenz “extrem wichtig”, denn es bilde für die Staats- und Regierungschefs die einmalige Chance, einmal “unter sich” zu sein und sich “ungestört auszutauschen”. Die Stimmung sei dabei meistens “erstaunlich herzlich”. Und das sei wichtig. Denn wenn man sich über schlechtes Essen ärgern müsse, sei man “nicht fokussiert auf den Inhalt der Konferenz”. Deshalb habe er, Billeter, höchstpersönlich am Testessen teilgenommen, “eine der schönen Seiten des Jobs”, es sei “fein” gewesen. Auch hätte man bereits anlässlich eines Rundgangs mit den Botschafterinnen und Botschaftern der Teilnehmerstaaten durch die Konferenzräume und Hotelanlagen des Resorts sämtliche Spezialwünsche der Gäste entgegengenommen – welche das seien, könne Billeter allerdings aus “Sicherheitsgründen” nicht verraten. Nur eines könne er sagen: Auf keinen Fall dürfe es vorkommen, dass irgendwo eines der mitgebrachten Gepäckstücke verloren gehen würde, das würde die Stimmung zu stark beeinträchtigen.

Doch nicht nur um das Wohlbefinden der Gäste kümmert man sich akribisch, sondern auch um deren Sicherheit. US-Vizepräsidentin Kemala Harris, welche ihr Land an der Bürgenstockkonferenz vertreten wird, geniesst dabei ganz besondere Beachtung. Sie steht unter dem Schutz des Secret Service, dessen Agenten schon mehrere Tage vor dem Konferenzbeginn eine Delegation entsenden werden, um alles vorzubereiten. Unter anderem werden die Agenten Fluchtrouten und Zufluchtsgelegenheiten vorbereiten, die im Notfall zur Evakuation dienen. Das Essen für die amerikanische Aussenministerin wird eingeflogen, die Zubereitung weiterer Mahlzeiten, die nicht eingeflogen werden können, wird von amerikanischen Sicherheitsleuten überwacht werden, diese werden sie auch auftragen. Anreisen wird Kemala Harris in einer Spezialversion der Boeing 747, ausgerüstet mit speziellen Kommunikations- und Abwehrtechnologien. Sollte Harris mit Helikoptern in der Schweiz unterwegs sein, werden diese von einer Eliteeinheit der US-Marines eingeflogen. Dasselbe gilt für alle Motorfahrzeuge, welche die Vizepräsidentin transportieren. Dem Tross der Vizepräsidentin, welcher rund ein Dutzend Fahrzeuge zählt, fahren stets Pilotfahrzeuge und Motorräder lokaler Sicherheitskräfte voraus. Ihnen folgt eine Reihe von schwarzen SUVs mit Autonummern des “US Government”. Zwei der Autos sind jeweils identische schwarze Geländewagen des Typs Chevrolet Suburban mit dem Emblem der Vizepräsidentin, damit nicht klar ist, in welchem der zwei Wagen sie selbst sitzt. Zum Tross gehören auch Geländewagen mit Geheimdienstagenten der National Security Agency. Dieser führt eine Reihe von gesicherten Kommunikationskanälen und Störsendern, etwa für Handynetze, mit, um allfällige Versuche von Angriffen auf die Vizepräsidentin zu erkennen und zu verhindern. Auch ein bis zwei Ambulanzfahrzeuge fahren mit. Stets dabei ist auch ein Bus mit Journalisten, Fotografen und Kameraleuten, die über alle Amtshandlungen Bericht erstatten.

Gleichzeitig stehen ukrainische Soldatinnen und Soldaten schon seit über zwei Jahren in den Schützengräben an der Front, viele von ihnen, ohne jemals eine Pause gehabt zu haben, fern ihrer Liebsten, schlecht ausgerüstet und insbesondere über die Wintermonate extrem tiefen Temperaturen beinahe schutzlos ausgeliefert, nur knapp mit Lebensmitteln versorgt und der ständigen Angst vor dem nächsten Bombenhagel ausgesetzt, während ihre Angehörigen Tag und Nacht zittern müssen, ob sie den geliebten Bruder, die geliebte Schwester oder den geliebten Sohn jemals wieder in die Arme schliessen können. Schwerverletzte werden so schnell wie möglich zusammengeflickt und wieder an die Front geschickt, selbst nach der Amputation eines Körperteils. Junge Männer, die dem Kriegsdienst zu entfliehen versuchen, werden niedergeknüppelt und ins nächste Militärfahrzeug verfrachtet. Was für Gedanken würden ihnen allen wohl durch den Kopf gehen, wenn sie hören würden, dass der grösste Knackpunkt an einer internationalen Konferenz in der Schweiz, bei der es angeblich um Krieg und Frieden in der Ukraine gehe, die Tischordnung beim abendlichen Festessen sei? Man fühlt sich unwillkürlich an jene Zeiten erinnert, vor vielen hundert Jahren, als in sicherer Distanz zu den kämpfenden, niedergemetzelten und auf dem Schlachtfeld verblutenden Soldaten die prunkvoll beflaggten Zelte der Feldherren und ihrer Entourage aufgepflanzt waren, in denen auf mit schneeweissen Tüchern gedeckten Tischen die erlesensten Speisen angerichtet wurden, meist von ehemaligen Soldaten gekocht und serviert, die dermassen übel zugerichtet waren, dass man sie auf dem Schlachtfeld schlicht und einfach nicht mehr brauchen konnte. Nur dass sich die prassenden Herren und die verzweifelt um ihr Überleben Kämpfenden wenigstens noch einigermassen in Sichtweite befanden, während die nun schon bald auf dem Bürgenstock Tagenden auch nicht das Geringste vom Leiden, von den Schmerzen, von der Angst, von der Verzweiflung und von der Trauer der Überlebenden im Kriegsgebiet mitbekommen werden und auch nie Angst zu haben brauchen, jemals selber an die Front gehen zu müssen. Denn, wie Jean-Paul Sartre sagte: “Wenn die Reichen Krieg führen, dann sterben die Armen.”

Die zweifellos lächerlichste Rolle in dieser Tragödie spielt die Schweiz. Dieses Land, das weltweit dank einer Vielzahl von Spitzendiplomatinnen und Spitzendiplomaten über Jahrzehnte höchsten Weltruhm genoss und als neutrales Land in vielen Konflikten die letzte Hoffnung war für friedliche Lösungen, bei denen jeweils die Interessen beider Seiten angemessen berücksichtigt und miteinander in Einklang gebracht werden konnten. Auch im Ukrainekonflikt hätte die Schweiz in Anbetracht ihrer humanitären Tradition eine vielleicht sogar historisch einmalige Rolle übernehmen können. Aber nein, über Nacht wurde alles über Bord geworfen und die vielbewährte Neutralität einfach so, ohne dass sich das Volk jemals demokratisch dazu hätte äussern können, ausgehebelt. Nahezu euphorisch begrüsste Aussenminister Cassis schon gleich zu Beginn des Kriegs vor einer vieltausendköpfigen Menge auf dem Bundesplatz in Bern inmitten eines Meers ukrainischer Flaggen den auf einer Riesenleinwand erscheinenden ukrainischen Präsidenten Selenski herzlichst als “my Dear Friend”, während Putin schon von Anfang an, nicht nur von den meisten Spitzenpolitikern, sondern auch von den allermeisten Medien, als Inbegriff des Bösen in Szene gesetzt und die Vorgeschichte des Konflikts mit sämtlichen Verwicklungen, Machtinteressen und der Mitverantwortung von NATO und US-Imperialismus systematisch ausgeblendet wurden. Die prachtvolle Vase von Neutralität, Diplomatie und Friedensstiftung war in tausend Stücke zersplittert und fast alle klatschten eifrig mit.

Dennoch hätte, als Selenski am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos im Januar 2024 die Schweizer Verteidigungsministerin Viola Amherd mit der Idee einer in der Schweiz zur Durchführung gelangenden Ukraine-Friedenskonferenz überraschte, die Möglichkeit bestanden, dieses Ansinnen, bei dem es für Selenski von Anfang an einzig und allein um die Durchsetzung seiner bzw. der US- und NATO-Interessen und nicht um eine gemeinsame Lösung mit möglichen beiderseitigen Kompromissen ging, entweder zurückzuweisen oder aber an die Bedingung zu knüpfen, Russland als gleichberechtigten Verhandlungspartner einzubeziehen. Doch nichts dergleichen geschah. Offensichtlich gebauchpinselt nahm Viola Amherd Selenskis Charmeoffensive auf und zerbrach auch noch die letzten verbliebenen Scherben von Neutralität und Friedensstiftung in weitere tausend Stücke. Jetzt war die Schweiz endgültig vor den Karren der einen der beiden Konfliktparteien gespannt und das Gegenteil dessen war geschaffen, was die Vorbedingung für eine echte Friedenslösung sein müsste, in der nicht die eine Seite der anderen schon von Anfang die Lösung diktiert. Die Folge: Eine gespaltene Welt und eine Vertiefung und gefährliche Zuspitzung des Konflikts, Aufrüstung statt Abrüstung, gegenseitige Drohgebärden und Beschuldigungen anstelle des Versuchs, wenigstens zaghafte Schritte in Richtung einer gemeinsamen Konfliktlösung zu wagen. Und so ist nun halt notgedrungen auf dem Bürgenstock bereits im Vorfeld weit und breit nicht mehr die Rede davon, welche Voraussetzungen für eine konstruktive Friedenslösung am geeignetsten wären, sondern nur, welche Voraussetzungen nötig sind, damit sich die anwesenden Gäste möglichst wohl fühlen, sich nicht über schlechtes Essen oder verlorenes Gepäck ärgern müssen, in herzlicher Atmosphäre Smalltalk mit möglichst wenigen kontroversen Themen betrieben werden kann, und ja, vor allem, dass bei der Tischordnung keiner der Gäste in seiner Würde verletzt wird. Kostenpunkt dieser Selbstinszenierung: Rund 15 Millionen Franken.

Dabei wäre sogar in diesen Tagen noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, eine echte Friedenslösung in Griffweite gelegen. Doch Putins Vorschlag, den Konflikt “einzufrieren” und Verhandlungen aufzunehmen, wurde vom Westen in Bausch und Bogen verworfen und als reiner Propagandatrick abgetan. Dabei wäre “Einfrieren” in Anbetracht eines so gefährlichen Flächenbrands doch gar keine so schlechte Idee. Wenigstens hätte dann das sinnlose gegenseitige Morden endlich ein Ende gehabt und es hätte die Chance zu einer Denkpause möglich gemacht, um im besten Fall tatsächlich Verhandlungen aufzunehmen. Doch lieber betonen die westlichen Regierungen die “Kriegstüchtigkeit” ihrer Länder, stecken noch mehr Geld in die Rüstung und halten blindlings am Ziel einer Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete fest, was sich, wenn überhaupt, nur durch eine derart massive Intensivierung der Kampfmassnahmen bis hin zum Einsatz von NATO-Truppen verschiedener Länder erreichen lassen würde, welche unweigerlich eine Reaktion Russlands zur Folge haben muss, deren schlimmstmögliches Ausmass bis hin zu einem dritten Weltkrieg man sich gar nicht vorzustellen wagt. Und dies alles aufgrund der einmal in die Welt gesetzten und seither nicht mehr hinterfragten Behauptung westlicher Regierungen, wonach die Ukraine für Putin nur der erste Schritt sei, und er, sollte er die Ukraine erobert haben, dann unweigerlich zur Eroberung weiterer europäischer Länder übergehen würde. Eine Vorstellung, die begreiflicherweise bei den betroffenen Bevölkerungen genug Angst auslöst, um damit jegliche Erhöhungen von Militärbudgets mehrheitsfähig und “demokratisch” abzusichern – obwohl alles auf einer reinen Fiktion basiert, sagte doch, wie die “Berliner Zeitung” am 31. März berichtete, NATO-Admiral Rob Bauer, immerhin Vorsitzender des NATO-Militärausschusses: “Es gibt keine Anzeichen, dass Russland eine Invasion in ein NATO-Land plant.” Doch wer liest schon die “Berliner Zeitung”. Und in welcher anderen Zeitung wäre so etwas, was die alles beherrschende Fiktion augenblicklich entlarven würde, schon zu lesen…

Blenden wir ins Jahr 1999 zurück. Aufgrund anhaltender ethnischer Spannungen und Machtkämpfe in der serbischen Provinz Kosovo schalteten sich die USA und weitere NATO-Staaten in den Konflikt ein und ergriffen einseitig Partei für die antiserbische Befreiungsarmee UCK – nichts anderes als das, was Russland ab 2014 in Anbetracht der zunehmenden Spannungen zwischen der ukrainischen Staatsmacht und Autonomiebestrebungen der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine tat. Schliesslich erfolgte am 24. März 1999 der völkerrechtswidrige militärische Angriff der NATO auf die Bundesrepublik Jugoslawien – wiederum absolut vergleichbar mit dem ebenfalls völkerrechtswidrigen Angriff Russlands am 24. Februar 2022 auf die Ukraine. 78 Tage und Nächte lang bombardierte die NATO Ziele in Serbien, bis die jugoslawische Regierung in den Abzug ihrer Truppen aus dem Kosovo einwilligte, um eine weitere Zerstörung ihres Landes zu verhindern. Die ehemals serbische Provinz Kosovo erklärte sich sodann zur unabhängigen Republik und Jugoslawien hatte auf einen Schlag rund einen Zehntel seines Territoriums verloren – absolut vergleichbar damit, dass sich die Ostukraine zur unabhängigen Republik erklären würde und die Ukraine dadurch etwa einen Fünftel ihres Territoriums verlieren würde. Mit anderen Worten: Würde der Westen den Ukrainekonflikt mit dem gleichen Massstab messen, mit dem er den Kosovokonflikt 1999 gemessen hatte, dann müsste er einer Loslösung der Ostukraine ebenso zustimmen, wie er einer Loslösung Kosovos von Jugoslawien 1999 nicht nur zugestimmt, sondern diese sogar durch einen völkerrechtswidrigen Krieg erzwungen hatte. Doch Logik scheint nicht die besondere Stärke des westlichen Militärbündnisses zu sein. Diese besteht offensichtlich viel mehr darin, unter dem Deckmantel von “Demokratie” und “Menschenrechten” eine Politik der Expansion, der Aggression, des Machtstrebens, des Schürens von Feindbildern und des Spiels mit dem Feuer eines alles vernichtenden Weltkriegs zu betreiben und damit ausgerechnet all das zu tun, was man dem vermeintlich “bösen” und “teuflischen” Gegner in die Schuhe schiebt.

Und wie wenn mit dem Ende der humanitären Tradition und den Scherben zersplitterter Neutralität nicht schon genug Unheil angerichtet worden wäre, beschloss der Schweizer Ständerat vor wenigen Tagen eine Erhöhung des Militärbudgets bis 2030 um vier Milliarden Franken, ein Betrag, der ausgerechnet bei der Entwicklungshilfe für die am meisten unter Hunger und den Folgen des Klimawandels leidenden Länder des Südens eingespart werden soll. Aber selbst damit noch nicht genug: Am 5. Juni, zehn Tage vor dem Beginn der Bürgenstockkonferenz, wurde eine Militärübung ganz besonderer Art durchgeführt: Auf einem Autobahnabschnitt zwischen Payerne und Avenches, der zu diesem Zweck für einen ganzen Tag lang für den Autoverkehr gesperrt wurde und wo 860 Pfosten sowie unzählige Mittelleitplanken entfernt, schadhafte Stellen im Strassenbelag repariert und Teile des nahe gelegenen Militärflugplatzes auf die Autobahn hatten gezügelt werden müssen, landeten Schweizer Kampfjets des Typs F/A-18, eine Aktion, die in dieser Form letztmals vor 33 Jahren, unmittelbar am Ende des Kalten Kriegs, durchgeführt worden war. Die Luftwaffenshow wurde live vom Fernsehen übertragen, ohne jeglichen kritischen Kommentar. Und die Tageszeitungen übersprudelten sich am folgenden Tag gegenseitig mit seitenlangen Berichten und riesigen Schlagzeilen über das Ereignis, das offensichtlich ganz besonders auch dem Zweck diente, potentielle militärische Gegner der Schweiz zu beindrucken. “Ein Helikopter fliegt über die Autobahnstrecke”, schreibt der “Tagesanzeiger” am 6. Juni, “kontrolliert, ob auch wirklich keine Gegenstände im Weg stehen. Und noch mal. Und nochmal. Bis – WRUUMMM!!!! – der erste Jet aus Osten angedüst kommt und über die Menge fliegt. Die Kameras klicken wie wild, die ersten Ellbögen werden ausgefahren, denn der spannende Teil kommt erst noch: Gleich landet die F/A-18 auf der Autobahn. Zehn Minuten später landet der zweite Kampfjet, dann der nächste und schliesslich der vierte. Den Hintergrund der Übung erklärt Christian Oppliger, stellvertretender Kommandant der Luftwaffe, damit, dass Russland mit dem militärischen Angriff auf die Ukraine die Grundlage für eine regelbasierte Friedensordnung in Europa zerstört, sich die Sicherheitslage insgesamt verschlechtert habe und ganz Europa nun seine Verteidigung hochfahre, darum müsse auch die Schweiz für den Ernstfall üben.” Im gleichen Artikel des “Tagesanzeigers” erfährt man auch, dass die Idee, Autobahnen als Landepisten für Kampfflugzeuge zu brauchen, ursprünglich von den Nazis gekommen sei: “Weil ihre Flugpisten im Zweiten Weltkrieg komplett zerstört worden waren, funktionierten sie Auto- zu Flugbahnen um. Mehrere Staaten, darunter die Schweiz, übernahmen diese Idee. Als in den 60er-Jahren ein flächendeckendes Autobahnnetz gebaut wurde, nahm die Armee direkt Einfluss auf die Planung. Deshalb verwendete man panzerfeste Beläge und sorgte für möglichst viele schnurgerade Abschnitte.” Auch das “Tagblatt” ist des Lobes voll und insbesondere von der Idee begeistert, dass die an der Übung beteiligten Armeeangehörigen für diese “einzigartige Mission” eine Extra-Autobahnvignette als Badge bekommen hätten. Unter den geladenen Gästen auf der Ehrentribüne, so das “Tagblatt”, seien zahlreiche Verteidigungsattachés und hochrangige Offiziere von anderen Ländern gewesen, unter ihnen auch der US-amerikanische Colonel Gonzales, der für seine Begeisterung fast keine Worte gefunden hätte. “That’s insane”, schwärmte Gonzales, “everything in Switzerland is so small and tiny und you still land the jets on this small highway.”

Die immer weiter um sich greifende Kriegseuphorie macht auch nicht vor der kleinen Stadt Halt, in der ich wohne. Morgen Samstag wird im Rahmen eines Strassenfests, zu dem die ganze Bevölkerung eingeladen ist, unter anderem ein Piranha-Panzer zur Schau gestellt, um Jung und Alt einen Einblick in die “Wehrhaftigkeit” unseres Landes zu vermitteln. Der Protest gegen diese Aktion aus Teilen der Bevölkerung, der sich in gut einem Dutzend Leserbriefen manifestierte, wurde schlicht und einfach ignoriert, die Organisatoren befanden es nicht einmal für nötig, offiziell dazu Stellung zu nehmen. Der Initiant der Aktion weigert sich bis heute, seinen Namen bekannt zu geben. Er möchte nicht ins Schussfeld der Diskussion geraten. Als einer jener, die bei jeder Gelegenheit von der Wehrhaftigkeit und Kriegstüchtigkeit unseres Landes schwärmen und von der Notwendigkeit, sich im Falle eines Krieges dem Feind mutig entgegenzustellen, bringt er selber nicht einmal den minimalen Mut auf, sich öffentlich zu seinem Ansinnen zu bekennen. Aber das scheint in so kriegsbegeisterten Zeiten wie der jetzigen ja auch gar nicht nötig zu sein, ist doch der Panzer offensichtlich in den Köpfen vieler Menschen schon fast so etwas Normales und Alltägliches wie das Kinderkarussell und der Zuckerwattenstand, die links und rechts von ihm für ein vergnügliches Fest für Gross und Klein sorgen werden.

Als Ali aus Afghanistan, seit einer Woche mein neuer Mitbewohner hier in der Schweiz, aus seiner Heimat fliehen musste, war sein zweiter Sohn noch nicht geboren. Als nun Alis Frau und die beiden Buben, nachdem sie eine Zeitlang im Iran Unterschlupf gefunden hatten, letzte Woche ebenfalls in der Schweiz eintrafen, sah Ali seinen inzwischen eineinhalbjährigen jüngeren Sohn zum ersten Mal. Wenn Ali vom Krieg in Afghanistan erzählt, von der Flucht vor den Taliban zusammen mit seinem Vater in einem Auto und sie so schnell fahren mussten, dass das Auto schliesslich an einer Felswand zerschellte und sie zu Fuss weiter in den Iran fliehen mussten, wo sein Vater wenig später, geschwächt durch all die Strapazen, im Alter von 55 Jahren verstarb, wenn er davon erzählt, wie viele gute Freunde und Verwandte er durch den Krieg verloren hat und wenn ihn dann immer wieder die Trauer darüber überkommt, dass er seine Mutter und seine drei Geschwister, die immer noch im Iran leben, vielleicht nie mehr sehen wird, dann wird mir so richtig bewusst, wie unendlich wertvoll Frieden ist und dass wir alles, aber auch alles Erdenklich daran setzen müssen, ihn nicht zu verlieren und ihn unter gar keinen Umständen einem unsichtbaren und anonymen Kriegsgott, der sich immer wieder in unser Denken einzumischen versucht, zu opfern. Er sei zu 100’000 Prozent Pazifist, sagt Ali, und er muss es wissen. Es ist zu befürchten, dass solche Stimmen, und sie wären die allerwichtigsten überhaupt, im zunehmenden Lärm der Kriegstrommeln unserer Tage kaum mehr zu hören sein werden. Offensichtlich unternimmt man lieber alles, um die bestehenden, kriegsschürenden Feindbilder am Leben zu erhalten und sich in erster Linie um das seelische und körperliche Wohl der Gäste auf einer “Friedenskonferenz” fern aller Realität zu kümmern, statt ernsthaft über eine Welt nachzudenken, in der Waffen und Kriege für immer geächtet sind und nie mehr Menschen ohne Mitgefühl so viel Macht erringen können, dass sie nicht nur Millionen andere, Unschuldige, sondern in letzter Konsequenz auch sich selber dem Untergang zu weihen vermögen. “Sieger”, sagte Michail Gorbatschow, der letzte Präsident der Sowjetunion, “wird man nicht auf dem Schlachtfeld, sondern dadurch, dass man Frieden schafft.”

(Nachtrag am 11. Juni: “Wer in Obbürgen wohnt, das direkt unter dem Hotel liegt”, so “20 Minuten” am 11. Juni, “muss sich bei jeder Rückkehr nach Hause ausweisen. Jeder Bürger und jede Bürgerin müssen sich bis Donnerstagmittag im Akkreditierungszentrum in der Sporthalle von Obbürgen melden und mit einem Ausweis eine Zugangskarte abholen. Ausgenommen sind lediglich Kinder unter 12 Jahren. Auch Autos müssen akkreditiert werden. Jedes Auto und jeder Lastwagen wird komplett durchleuchtet. Und auf dem nahen Heliport wird mit sogenannten Abrollstrassen, die aus Metallplatten bestehen, auf einer Wiese unterhalb des Bürgenstocks ein temporärer Flugplatz mit fünf Start- und Landepisten eingerichtet. Rund um den Bürgenstock wird zudem eine grossräumige Flugverbotszone eingerichtet. Diese gilt auch für die Drohnen, welche von Landwirten eingesetzt werden, die dringend ihre Wiesen mähen müssen und sie zuvor jeweils mit Drohnen abfliegen, um Rehkitze zu finden, die sich im Gras verstecken. Eine Ausnahmebewilligung für die Drohnen wurde von Bundesrätin Viola Amherd ausgeschlossen.”)