Ukraine: Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte…

 

Die von Wladimir Putin anlässlich des 67. Jahrestags des Sieges über den Nationalsozialismus gehaltene Rede stösst im Westen, wie könnte es anders sein, auf pures Unverständnis und sei nur ein weiterer Beweis für die “Irrlehren” , die von Putin verbreitet würden. Doch schauen wir uns etwas genauer an, was Putin tatsächlich sagte: Er beschuldigte den Westen, Russland vernichten zu wollen. Und er verweist auf einen von der russischen Regierung dem Westen im Dezember 2021 vorgelegten, unterschriftsreifen Vertrag, wonach keine weiteren Länder in die NATO aufgenommen werden sollten, ein Vertrag, der von der NATO und der USA mit der Begründung zurückgewiesen worden sei, über dieses Thema werde der Westen mit Russland keine Verhandlungen führen. Solche und ähnliche Anschuldigungen werden in den westlichen Medien als blanker Unsinn abgetan. Tatsächlich aber sind sie alles andere als aus der Luft gegriffen. Man denke nur an die Brandreden nationalsozialistischer Wortführer auf dem Maidan in Kiew anfangs 2014, welche zur Vernichtung des russischen Volkes aufriefen. Man denke auch an die Gräueltaten und Kriegsverbrechen, welche vom ebenfalls nationalsozialistisch ausgerichteten Asow-Regiments zwischen 2014 und 2022 gegen die Zivilbevölkerung im Donbass verübt wurden. Und man denke an den bereits 1997 zwischen der Ukraine und der NATO abgeschlossenen Kooperationsvertrag, der eine enge Zusammenarbeit bei der militärischen Ausbildung, der Einführung gemeinsamer technischer Standards und der Lieferung von Waffen zur Folge hatte – und dies, obwohl der US-Historiker George F. Kennan im selben Jahr mit folgenden Worten eindringlich vor einer NATO-Osterweiterung gewarnt hatte: “Die Entscheidung, die NATO bis zu den
Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die
russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden
missfallen wird.” Man stelle sich einen Augenblick lang vor, Kanada oder Mexiko hätten einen ähnlichen Vertrag mit Russland abgeschlossen, die USA hätten das wohl zweifellos auch nicht widerstandslos akzeptiert. Putins Zuspitzung, der Westen wolle Russland vernichten, mag masslos übertrieben klingen. Aber es gibt zu viele Hinweise darauf, dass dies alles nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. Man erinnere sich nur an die jüngste Aussage des amerikanischen Verteidigungsminister Austin, der als Ziel der westlichen Militärpolitik eine dermassen umfassende “Schwächung Russlands” in den Raum stellte, dass eine Invasion wie jene in die Ukraine “nie mehr möglich” sein solle. Es braucht schon eine gehörige Portion Naivität, um jegliche Mitschuld des Westens am Ukrainekonflikt zu verneinen. Dabei gäbe es auch ausserhalb Russlands und der “Irrlehren” Putins genügend kritische Stimmen, man müsste sie bloss zur Kenntnis nehmen. So zum Beispiel bestätigt Klaus Dohnanyi, ehemaliger Berater der deutschen Bundeskanzlers Helmut, die Existenz des von Putin angesprochenen Verhandlungsangebots im Dezember 2021. Dohnanyi bedauert zutiefst die ablehnende, ja geradezu arrogante Haltung des Westens und ist überzeugt, dass dies die letzte Chance gewesen wäre, den Krieg zu verhindern. Catherine Belton, Korrespondentin der “Financial Times”, erklärte in einem Interview mit der “Sonntagszeitung” vom 20. März 2022, Putin hätte sich, zu Recht oder zu Unrecht, durch den Einfluss des Westens und vor allem der USA auf die Ukraine bedroht gefühlt. Und weiter: “Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion herrschte im Westen Euphorie. Man glaubte, dass den Russen gar nichts anderes übrig blieb, als sich anzupassen und sich in eine vom Westen geführte Welt zu integrieren.” Fritz Pleitgen, langjähriger ARD-Korrespondent, schreibt in seinem Buch “Krieg oder Frieden”, dass in Bezug auf die Ukraine der Westen, nicht “von erheblicher Mitschuld” freigesprochen werden könne. Und Papst Franziskus sagte in einem Interview mit dem Corriere delle sera am 3. Mai 2022: “Vielleicht war es die NATO, die Putin dazu veranlasste, die Invasion der Ukraine zu entfesseln.” Bezeichnenderweise finden solche kritische Stimmen selten Eingang in die Mainstreammedien des Westens, würden sie das in unseren Köpfen festgezimmerte Bild von den “Bösen” und den “Guten” doch auf gefährliche Weise in Frage stellen und uns den Blick dafür öffnen, dass auch in den absurdesten “Irrlehren” unseres “Feindes” immer noch ein Körnchen Wahrheit stecken könnte. Zum Dialog und zu möglichen Friedensverhandlungen kann es nur dann kommen, wenn beide Seiten ihre Scheuklappen ablegen, sich von der Fixierung auf das jeweilige Feindbild lösen und bereit sind, alle von der “Gegenseite” erhobenen Anschuldigen selbstkritisch und offen auf den Tisch legen und ernst zu nehmen. „Ein
Gespräch”, sagte der Philosoph Hans-Georg Adamer, “setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.“ Ein hohes Ziel, gerade in kriegerischen Zeiten wie diesen. Aber was in einfacheren Zeiten seine Gültigkeit hat, hat es in schwierigeren erst recht. Vor allem, wenn man sich die Alternative dazu vor Augen führt: sinnloses gegenseitiges Blutvergiessen bis um bitteren Ende, Zerstörungen, Hass und Gewalt auf Jahrzehnte hinaus…