Ukraine: Das letzte Aufbäumen einer alten Zeit, die sich unweigerlich ihrem Ende entgegenneigt

 

Mit der Annexion der ukrainischen Regionen Luhansk, Donezk, Saporischja und Cherson durch Russlands hat der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland eine neue Eskalationsstufe erreicht. Die Ukraine wird alles daran setzen, diese Gebiete zurückzuerobern, gleichzeitig wird Russland alles daran setzen, sie nicht mehr aus der Hand zu lassen und auch noch die letzten weissen Flecken der vier Regionen, die noch von der Ukraine beherrscht werden, unter seine Gewalt zu bringen. Weitere verlustreiche Kämpfe scheinen unausweichlich zu sein, Tausende von Zivilpersonen werden sterben, ganze Dörfer und Städte drohen dem Erdboden gleichgemacht zu werden.

Zynischerweise werden dabei ausgerechnet jene Menschen, die man aus der Gewalt des jeweiligen “Feindes” befreien will, unsäglichem Leiden preisgegeben. Wenn sich Russland und die Ukraine gegenseitig bis aufs Blut bekämpfen, so dient dies zuallerletzt dem Wohl der Menschen, die hier leben. Nur in den Köpfen der ewiggestrigen Kriegstreiber auf beiden Seiten der Front spielt es eine Rolle, ob über diesem Dorf oder jener Stadt, dieser Brücke oder jenem Hügel die ukrainische Flagge weht oder die russische. “Je näher ich der Frontlinie komme”, so “Welt”-Reporter Steffen Schwarzkopf in der Tagesschau des Schweizer Fernsehens SRF, “umso mehr stellte ich fest: Vielen Menschen ist es egal, ob sie von der Ukraine oder von Russland regiert werden, sie möchten einfach in Frieden leben.” 

Wäre es denn wirklich so schlimm, wenn die Ukraine diese vier Regionen an Russland “verlieren” würde? Unermessliches Leiden und Blutvergiessen könnte vermieden werden. Zu Recht würde die Ukraine zwar den durch Gewalt erzielten Verlust eines Teils ihres bisherigen Staatsgebiets beklagen. Doch haben wir so schnell vergessen, dass auch die Sowjetunion 1991 mehr als ein Fünftel ihres früheren Territoriums “verlor”, und das, ohne dass eine einzige Gewehrkugel abgeschossen worden wäre? Und wie war das schon wieder 1999, als die USA und ihre Verbündeten Serbien bombardierten und eine Ablösung des Kosovos aus der Bundesrepublik Jugoslawien erzwangen? Und wurden nicht auch Ostjerusalem 1980 und die Golanhöhen 1981 von Israel annektiert? Staatliche Grenzen scheinen offensichtlich nicht immer ganz so “heilig” zu sein, sondern vielmehr abhängig von den jeweiligen Grossmachtinteressen.

Betrachten wir die Weltlage als Ganzes, dann müssten eigentlich staatliche Grenzen nicht eine immer wichtigere, sondern eine immer weniger wichtige Rolle spielen. Denn letztlich sind wir ja nicht in allererster Linie Bürgerinnen und Bürger einer bestimmten Nation, sondern Bewohnerinnen und Bewohner einer grossen gemeinsamen Erde. Der drohende Klimawandel zeigt es uns in unmissverständlicher Deutlichkeit: Unser gemeinsames Überleben wird nicht davon abhängen, welche Flagge über unseren Häusern und unseren Städten weht, sondern vielmehr davon, ob es uns gelingt, die immensen sozialen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Herausforderungen zu bewältigen, die vor uns liegen. Dies kann nur weltweit geschehen, in gegenseitiger Kooperation über alle Grenzen hinweg, im Bewusstsein, dass das, was die Menschen miteinander verbindet, viel grösser und viel wichtiger ist als das, was sie voneinander trennt, egal welcher Nationalität sie sich zugehörig fühlen. 

Wenn eine neue Zeit beginnt, dann muss auch eine alte zu Ende gehen. Vielleicht ist es ja genau diese Hoffnung, die uns davor bewahren kann, allen täglichen Schreckensmeldungen zum Trotz den Mut nicht zu verlieren: Dass das, was heute an Kriegen, Gewalt und Zerstörung weltweit geschieht, nichts anderes ist als das letzte Aufbäumen einer alten Zeit, die sich unweigerlich ihrem Ende entgegenneigt. Denn, wie schon der amerikanische Bürgerrechtskämpfer sagte: “Entweder werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben oder aber als Narren miteinander untergehen.” Noch haben wir die Wahl…