Ukraine: Am Ende sind wir alle mitverantwortlich

 

“Seit seinem Überraschungsbesuch in Kiew”, schreibt der “Tagesanzeiger” vom 12. April 2022, “kann sich der britische Regierungschef Boris Johnson im Glanz seiner Reise sonnen.” Die ukrainische Führung, so heisst es, wünschte sich, alle Welt wäre “mutig wie Boris”, der keinen Augenblick gezögert hätte, der Ukraine zu helfen. Und ja: Knausrig war Johnson nicht, hat er der Ukraine doch die Lieferung von 120 gepanzerten Fahrzeugen und jede Menge Anti-Schiffs-Raketen zugesichert. Bestens dazu passen die Bilder von seinem Kiew-Besuch, wo er zusammen mit Selenski und schwer bewaffneten Begleitern eine Inspektionsrunde absolvierte. Auch die “Sunday Times” ist voll des Lobes und feiert Johnson als “Waffenbruder” und “Kampfgefährten” des ukrainischen Präsidenten. “Die Ukrainer”, so Johnson, “haben den Mut eines Löwen. Und Präsident Selenski hat für das Brüllen des Löwen gesorgt.” Zurück in London, sind alle Zweifel an der politischen Zukunft Johnsons, die eben noch die Medien beherrschten, im Nichts verflogen. “Indem er der Ukraine so tatkräftig zur Seite steht”, so der “Tagesanzeiger”, “hat Johnson auch seine eigene politische Karriere gerettet. Niemand in seiner Partei wird es wagen, unter den jetzigen Umständen die Ablösung Johnsons zu verlangen.” Grösser könnte der Gegensatz nicht sein: Während sich Boris Johnson auf seinem Ukrainetrip Ruhm und Ehre geholt hat, hagelte es für den österreichischen Bundeskanzler Karl Nehammer, der gleichentags nach Moskau reiste, Kritik von allen Seiten. Er habe, so Nehammer, nichts unversucht lassen wollen, um eine Einstellung der Kampfhandlungen oder zumindest humanitäre Fortschritte für die notleidende Bevölkerung in der Ukraine zu erwirken, um auf diese Weise die “Brückenbauerfunktion” als neutrales Land wahrzunehmen. Dieser Besuch, so der ORF-Russlandexperte Gerhard Margott, “ist keine gute Entscheidung”, biete er doch Putin bloss eine Bühne für das internationale Ansehen Russlands, sei “sinnlos”, ein “Fehler” und eine “Selbstdemütigung Österreichs”. So weit also sind wir schon: Der mutige Waffenbruder aus London, der dazu beiträgt, mit massiven Waffenlieferungen einen Krieg, der schon viel zu viele Opfer gefordert hat, sinnlos weiter in die Länge zu ziehen, wird selbst von seinen politischen Gegnern gefeiert und umjubelt. Und der Bundeskanzler aus Wien, der nicht das Scheinwerferlicht sucht, sondern einfach seinem Herzen und seinem politischen Gewissen folgt, wird von allen Seiten dermassen mit Kritik eingedeckt, dass man sich schon wundern muss, dass nicht bereits die ersten Rücktrittsforderungen gegen ihn erhoben werden. Ja, wer zeigt hier eigentlich mehr Mut? Der Kampfgefährte oder der Friedenssucher? Braucht es denn so viel Mut, 120 gepanzerte Fahrzeuge und jede Menge Anti-Schiffs-Raketen in den Krieg zu schicken? Oder müsste man nicht viel eher den österreichischen Friedenssucher als den tatsächlich Mutigen bezeichnen, der entgegen aller auf ihn eingeprasselter Kritik nichts unversucht lassen wollte, um vielleicht trotz allem doch noch eine friedliche Lösung des Konflikts hinzukriegen? Wenn Kriegstreiber wie Boris Johnson gefeiert werden und Friedenssucher wie Karl Nehammer der öffentlichen Lächerlichkeit preisgegeben werden, wenn Pazifismus als naiv und realitätsfremd belächelt und wenn behauptet wird, Krieg sei nur mit Krieg zu bezwingen, dann leben wir in einer höchst gefährlichen Zeit. Verantwortung tragen dabei nicht nur die Politikerinnen und Politiker. Verantwortung tragen in ganz besonders hohem Masse auch die Medien mit ihren hochgeschaukelten, zugespitzten, vereinfachenden Bildern und Meldungen, mit denen sämtliche historische Hintergründe ausgeblendet werden und immer nur gerade der aktuelle Moment ins Scheinwerferlicht gestellt wird. Verantwortung aber tragen auch wir alle, wenn wir entweder schweigen oder aber ins Kriegsgeheul auf der einen oder andern Seite einfallen, statt unsere Stimmen zu erheben für das Kostbarste und Schützenswerteste, was man sich nur vorstellen kann: den Frieden, die Aussöhnung, das Ende von Hass, Feindbildern, Gewalt und Krieg im Zusammenleben von Völkern und Staaten. Allen mutigen Löwen, aller Kriegstreiberei, aller Hoffnungslosigkeit zum Trotz.