Über den Austritt aus dem Kapitalismus abstimmen

Trotz der krachenden Niederlage im Unterhaus will Premierministerin Theresa May neue Möglichkeiten für einen Vertrag mit der EU ausloten. Als Erstes stellt sie heute die Vertrauensfrage, danach geht das Tauziehen um «Deal or No Deal» weiter.

(Tages-Anzeiger, 16. Januar 2019)

Armut, Arbeitslosigkeit, schlechtes Gesundheitswesen, hohe Wohnungsmieten, wirtschaftliche Stagnation, Migration – das waren doch die Themen, die im Juni 2016 dazu führten, dass sich eine Mehrheit der britischen Bevölkerung für einen Austritt aus der Europäischen Union aussprach. Bloss: Wird, wenn dieser Austritt früher oder später doch noch vollzogen wird, tatsächlich alles besser? Besteht nicht die Gefahr, dass auch ohne EU-Mitgliedschaft mehr oder weniger alles beim alten bleibt? Sind die Probleme, welche die britische Bevölkerung plagen, nicht vor allem Probleme des Kapitalismus, und nicht so sehr Probleme der EU? Müsste man, statt über eine EU-Mitgliedschaft, nicht sinnvollerweise über einen «Austritt» aus dem Kapitalismus abstimmen? Und wäre es bloss eine Konsultativabstimmung ohne sofortige Folgen – aber mindestens wüsste man dann, in welche Richtung sich zukunftsweisende politische Diskussionen bewegen müssten. Ist in Deutschland aufgrund aktueller Umfragen eine Mehrheit der Bevölkerung für die Überwindung des Kapitalismus, so wäre dies möglicherweise auch in Grossbritannien und anderen Ländern der Fall. Was offensichtlich heute noch fehlt, ist eine politische Bewegung, die auf eine umfassende Alternative zum Kapitalismus ausgerichtet ist. Gäbe es eine solche, so wäre also zumindest in Deutschland mehrheitsfähig. Und vielleicht auch in Grossbritannien. Und vielleicht auch in der Schweiz…