Der Fall Tönnies und was wir daraus lernen können

Nach dem massiven Corona-Ausbruch im Schlachtbetrieb Tönnies in Nordrhein-Westfalen, wo 1331 der 6500 Arbeiterinnen und Arbeiter positiv auf Covid-19 getestet wurden,  ist das Vertrauen zwischen den Behörden und der Branche zerrüttet. Nachdem nun auch die Schulen wieder geschlossen und ganze Strassenzüge unter Quarantäne gestellt wurden, haben Politiker und die zuständigen Behörden den Bereich der diplomatischen Formulierungen verlassen. Nun geht es in dem Landkreis um Schadensbegrenzung. Wie es zu dem Corona-Ausbruch kommen konnte, ist eine Frage, die nun Tönnies und die Behörden gleichermassen beantworten müssen. Schliesslich ist es nicht der erste Corona-Vorfall in einem Schlachtbetrieb seit Beginn der Pandemie, und schliesslich ist seit langem bekannt, welch fragwürdige Zustände in Deutschlands grossen Schlachthöfen herrschen: Die Arbeiter kommen überwiegend aus Rumänien, Polen und Bulgarien, werden von Subunternehmen angestellt, leben in Massenunterkünften, wo sich nicht selten drei Arbeiter ein einziges Bett teilen müssen, und schuften unter widrigen Bedingungen zu Billiglöhnen. Auf Kosten des Tierwohls landet Schweinefleisch zu Billigpreisen in den Supermärkten.

(www.nzz.ch)

Als hätte man es vorher nicht gewusst. Es brauchte die Coronaepidemie, um ans Tageslicht zu bringen, unter welchen menschenunwürdigen Bedingungen in den deutschen Schlachthöfen gearbeitet wird, Bedingungen, die man ohne Übertreibung als moderne Sklaverei bezeichnen kann, und das mitten im demokratischen, aufgeklärten, zivilisierten Deutschland. Und sogleich schieben sich alle gegenseitig die Schuld in die Schuhe: Politiker der einen Partei fallen über die Politiker der anderen Partei her, Gesundheitsexperten, Behördenmitglieder und Fleischfabrikanten streiten darüber, wer am Ganzen Schuld sei und wer nicht und weshalb. Dabei gibt es doch nur einen einzigen zweifellos Schuldigen: das Prinzip der freien Marktwirtschaft, der kapitalistische Konkurrenzkampf aller gegen alle, der jeden Einzelnen, der am Ganzen beteiligt ist, dazu zwingt, immer noch ein bisschen schneller und ein bisschen billiger zu sein als alle anderen. Eigentlich hätte niemand das Recht, mit dem Finger auf andere zu zeigen, es ist ein Spiel, das wir alle mitspielen, solange auch wir als Konsumenten und Konsumentinnen immer dem billigsten Häppchen hinterherrennen, ohne uns darüber Gedanken zu machen, welches Ausmass an Leiden hinter all den Produkten, die uns angeboten werden, steckt. Denn es ist nicht nur das Fleisch der Firma Tönnes, es sind auch die Kleider aus den Textilfabriken Bangladeshs. Es sind auch die Spielsachen aus China. Es sind auch die Möbel von Ikea, deren Holz aus dem illegalen Raubbau in Wäldern Rumäniens und der Ukraine stamm. Es sind auch die Smartphones, die nur dank jenen seltenen Metallen funktionieren, die afrikanische Minenarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen aus dem Boden schürfen. Jetzt steht die Firma Tönnes im Rampenlicht. Aber eigentlich müsste man den Kapitalismus ins Rampenlicht stellen. Wir brauchen ein nichtkapitalistisches Wirtschaftssystem, das nicht auf gegenseitiger Ausbeutung beruht, sondern auf Gerechtigkeit, Menschenwürde und Respekt, nicht nur gegenüber den Menschen, sondern auch gegenüber den Tieren und gegenüber der Natur. Alles andere hat keine Zukunft.